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bei MySpace? Sie erinnerte sich, dass sie vor ein paar Monaten mal davon gehört hatte.
»Ja.«
»Da hatte jemand ein neues Foto eingestellt.«
»Ich versteh nicht, was du meinst.«
»Es wurde direkt vor Spencers Tod gemacht.«
»Ich dachte, er war an dem Abend allein«, sagte Tia.
»Das dachte ich auch.«
»Ich versteh dich immer noch nicht.«
»Ich glaube«, sagte Betsy Hill, »Adam war an dem Abend mit Spencer zusammen.«
Tia drehte sich zu ihr um. Betsy Hill sah auf die Straße. »Und darüber habt ihr gestern gesprochen?«
»Ja.«
»Auf dem Parkplatz nach der Schule.«
Tia fiel der Chat mit CeeJay8115 wieder ein:
Was ist los?
Seine Mutter hat mich nach der Schule abgefangen.
Tia fragte: »Warum bist du nicht zu mir gekommen?«
»Weil ich nicht wissen wollte, was du dazu sagst, Tia«, sagte Betsy. In ihrer Stimme lag eine gewisse Schärfe. »Ich wollte wissen, was Adam dazu sagt.«
Die Highschool, ein langgestreckter, ziemlich trostloser Backsteinbau, erschien vor ihnen. Betsy hatte den Wagen noch gar nicht ganz angehalten, als Tia schon aus der Tür sprang und auf das Gebäude zurannte. Sie wusste, dass Spencers Leiche auf einem der niedrigeren Flachdächer gefunden worden war, einem altbekannten und seit Jahrzehnten etablierten Rauchertreffpunkt. Die Jugendlichen stiegen auf ein Fenstersims und kletterten von da die Dachrinne hoch.
»Warte«, rief Betsy Hill.
Aber Tia war schon fast da. Es war Samstag, trotzdem standen
viele Autos auf dem Parkplatz. Lauter SUVs und Minivans. Es fanden Kinderbasketballspiele und Fußballtraining statt. Die Eltern standen mit Starbucks-Kaffeebechern an den Seitenlinien, plapperten in Handys, schossen Fotos mit Teleobjektiven, fummelten an ihren Blackberrys herum. Tia war nie besonders gern zu den Sportveranstaltungen gegangen, an denen Adam teilgenommen hatte, denn sosehr sie sich auch dagegen gesträubt hatte, am Ende war sie immer mit vollem Herzen dabei gewesen. Dabei konnte sie diese ehrgeizigen Eltern nicht ausstehen, die ganz und gar in den sportlichen Erfolgen ihrer Kinder aufgingen. Sie fand diese Eltern engstirnig und jämmerlich und wollte nicht zu ihnen gehören. Wenn sie ihrem Sohn aber bei einem Wettkampf zusah, empfand sie so starke Gefühle und machte sich so ungeheure Sorgen um Adams Zufriedenheit, dass seine guten und schlechten Szenen im Spiel sie extrem mitnahmen.
Tia blinzelte ein paarmal, um die Tränen aus ihren Augen zu bekommen, und rannte weiter. Vor dem Fenster blieb sie dann wie angewurzelt stehen.
Der Sims war weg.
»Sie haben den Sims abgebaut, nachdem sie Spencer da gefunden hatten«, sagte Betsy, die ihr nachgelaufen war. »Die Kids sollten da nicht mehr raufkommen. Tut mir leid, das hatte ich vergessen.«
Tia sah sie an. »Jugendliche finden immer einen Weg«, sagte sie.
»Ich weiß.«
Tia und Betsy suchten nach einer anderen Möglichkeit, aufs Dach zu kommen, fanden aber keine. Sie rannten um den Seitenflügel der Schule zum Haupteingang. Die Tür war abgeschlossen, also klopften sie so lange, bis ein Hausmeister im Overall erschien, der den Namen Karl auf die Brust gestickt hatte.
»Die Schule ist geschlossen«, sagte er durch die verglaste Tür.
»Wir müssen aufs Dach«, rief Tia.
»Aufs Dach?« Er runzelte die Stirn. »Wieso das denn?«
»Bitte«, sagte Tia. »Sie müssen uns reinlassen.«
Der Blick des Hausmeisters wanderte nach links, und als er Betsy Hill sah, zuckte er zusammen. Zweifelsohne hatte er sie erkannt. Ohne ein weiteres Wort schloss er die Tür auf.
»Hier entlang«, sagte er.
Alle drei rannten los. Tias Herz schlug so heftig, dass sie fürchtete, es könnte ihr die Rippen brechen. Sie hatte immer noch Tränen in den Augen. Karl öffnete eine Tür und deutete in die Ecke. An der Wand war eine Leiter angebracht, die eher an ein U-Boot erinnerte. Tia zögerte keine Sekunde. Sie rannte hin und fing an zu klettern. Betsy Hill folgte direkt hinter ihr.
Sie kamen auf der anderen Seite des Dachs raus. Die Highschool war über hundert Jahre alt. Fast zweitausend Schüler besuchten sie. Im Lauf der Jahre waren diverse Anbauten dazugekommen – und damit auch Dächer. Sie waren auf einem etwa achtzig Jahre alten Flügel. Spencers Leiche war auf einem flachen Anbau aus den Sechzigern gefunden worden.
Tia rannte über Schotter und Teer. Betsy blieb ihr auf den Fersen. Die Dächer der Anbauten waren unterschiedlich hoch. Einmal mussten sie fast ein ganzes Stockwerk hinunterspringen. Beide zögerten keine
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