Sie waren zehn
den weichen Boden und überdachte seinen weiteren Weg.
Von Lataschino führte eine kleinere Straße bis zur breiten Straße, die von Rshjew in einem großen Bogen nach Südosten verlief und bei Wnukowo auf die berühmte Rollbahn Minsk - Witebsk - Smolensk - Moskau stieß. Das war ein Weg mit vielen Umwegen und Gefahren. Leichter schien es, bis Wolokolamsk zu wandern und dort die Eisenbahn nach Moskau zu nehmen. Es war zwar eine Nebenstrecke, aber sie wurde – wie Milda Ifanowna erklärt hatte – von den Güterzügen bevorzugt, die aus dem nordwestlichen Raum heranrollten. Vor allem aber war es die Strecke, die jetzt der Nachschub für die kommende sowjetische Offensive benutzte. Hier rollten Tag und Nacht die Munitionszüge und Truppentransporter nach Westen, ungestört von der deutschen Luftwaffe, die nur vereinzelt in Erscheinung trat. Der Luftraum über Rußland gehörte längst wieder der Roten Luftflotte … ihre Abfangjäger zerstreuten jeden Versuch der Deutschen, Unruhe in den Nachschub zu bringen. Über Göring, den deutschen Reichsmarschall, konnte man mittlerweile im Kreml lachen, so sehr man ihn früher gefürchtet hatte. Es gab – vor allem aus russischer Sicht – wahre Helden unter den deutschen Fliegern, aber die von Tag zu Tag fortschreitende Ohnmacht der deutschen Luftwaffe war wie ein Symbol für den Zerfall der deutschen Kraft.
Tarski entschloß sich, bis Wolokolamsk zu wandern und dort auf einen Zug nach Moskau zu warten. Nach Mildas Informationen rollten über diese Strecke auch die Lazarettzüge – nicht nur Spezialwagen mit fahrbaren Operationsabteilen oder übereinander an den Wänden angeschraubten Betten, sondern auch simple Personenwagen, in denen die gehfähigen Verwundeten herumsaßen und auf einen guten Platz in einem Lazarett hofften. Das waren durchweg angenehme Menschen, denn was ist in einem Krieg schöner und lebensverlängernder als ein Schüßchen, sagen wir in den Arm oder den Schenkel, in die Schulter oder den Hintern, überall dorthin, wo der Schaden nicht allzu groß ist, aber doch gerade groß genug, daß man auf ein weißes Bett hoffen kann, auf durchaus hilfsbereite Sanitäterinnen, und vor allem auf eine Schüssel vom Kascha oder Kapustasuppe, die nicht so wässerig ist wie draußen im Graben.
Mit solchen Menschen, die ihre umwickelten Wunden mit tiefer seelischer Genugtuung betrachten, ist gut zu reisen, dachte Tarski. Sie fragen nicht, sie werden nur von ihren Heldentaten erzählen und von der Stunde ihrer Verwundung, sie werden darüber grübeln, welches Lazarett sie aufnimmt und ob es dort eine Möglichkeit gibt, in eine nahe Stadt zu fahren, wo man den Mädchen zeigen wird, wie schnell ein Frontsoldat seine Hose fallen lassen kann.
»Auch ich bin einer von euch«, würde Tarski dann erzählen. »Ein Veteran fast schon. Jawohl, ich bin erst 22 Jahre, aber das Milchgesicht hat man mir in den Pripjet-Sümpfen weggewischt. Mit heilem Leib bin ich herausgekommen, doch das Fieber hat mich gepackt. Kennt ihr das Sumpffieber? Wünscht es euch nicht, Brüderchen! Was hast du mitbekommen? Einen Steckschuß im linken Oberschenkel? Du Glücklicher! Und du, Freundchen? Ein Splitter hat dir fast die rechte Hand abgehackt? Sing ein Lied der Freude, sag ich dir! Das heilt alles, das kann man reparieren. Aber was so ein Sumpffieber ist – das bleibt. Das hat sich eingefressen wie eine Zecke. Das sitzt im Blut und schwimmt mit, rundum im Körper, und keiner kriegt es heraus. Was haben die Ärzte mir gesagt! ›Sergeij Andrejewitsch‹, haben sie gesagt und das Gesicht in kummervolle Falten gelegt, ›mein lieber Sergeij Andrejewitsch …‹ Mehr nicht! Aber wenn ein Militärarzt sagt: ›Mein lieber Sergeij Andrejewitsch‹, dann ist das so, als stecke man dich bereits in eine Kiste. – Ich habe es ertragen: die glühende Hitze in den Adern und dann das eisige Frieren, den Schüttelfrost, obwohl du wegschwimmst im eigenen Schweiß, das Klappern mit den Zähnen, das klingt wie ein spanischer Tanz. Kennt ihr einen spanischen Tanz, Genossen? Klack-klack-klack-klack – Tönende Hölzchen schlagen sie aufeinander. So ist's mit den Zähnen, wenn der Anfall dich packt. Und dann kommt der Durchfall. Liebe Brüder, es ist erstaunlich, ja sensationell, was ein Mensch alles im Darm hat, obwohl er kaum was zu fressen kriegt. Beim ersten Anfall habe ich einen ganzen Eimer vollgeschissen, glaubt es mir. Danach bin ich zusammengefallen, als hätte ich alle Knochen aus dem Darm gedrückt.
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