Sie waren zehn
keine reagierenden Nerven mehr.
Es dauerte ein paar Sekunden, bis Sassonow sich an die Erkenntnis gewöhnte, daß er lebte, auf einer Pritsche lag, in einer dunklen Zelle des NKWD-Gebäudes von Moskau, und daß man ihm nicht den Schädel eingeschlagen hatte. Das war sein letzter Gedanke gewesen und mit diesem wachte er wieder auf …
Er lag unter der Decke in völliger Nacktheit. Man hatte ihn während seiner Besinnungslosigkeit ausgezogen und die Kleidung weggebracht. Außer der Decke war nichts in der Zelle, womit er sich bekleiden konnte. Er schob die Beine von der Pritsche, wickelte die Decke um sich und konzentrierte sich wieder auf die einzige Handlung, die ihm übriggeblieben war: Wie töte ich mich selbst?
Irgendwo mußte ein gut funktionierendes Alarmsystem seine Zelle beobachten – die Tür öffnete sich, Lichtschein fiel in den dunklen Raum und erfaßte sofort Sassonows hockende Gestalt. Er blinzelte in die Helligkeit hinein, unterschied drei Personen in Uniform und stand auf.
»Geht es jetzt zur Entlausung?« fragte er. »Ich bin ein sauberer Mensch. Oder hat man in meinem Anzug ein Tierchen entdeckt?«
»Kommen Sie mit!« sagte eine harte Stimme.
»So wie ich bin?«
»Ja.«
Sassonow raffte die Decke, hielt sie mit beiden Händen fest und tappte auf nackten Sohlen hinaus in den Zellengang. Ein junger Leutnant nickte ihm ernst zu, zwei Soldaten flankierten ihn und murmelten das berühmte »Dawai!« Sie führten ihn sechs Türen weiter, und dort, in einem kahlen Raum mit in grüner Ölfarbe bemalten glatten Wänden, saß Oberst Smolka hinter einem einfachen Holztisch. Ein Stuhl vor dem Tisch war so aufgestellt, daß er zwischen zwei Scheinwerferbatterien stand. Es waren auf jeder Seite vier Stück. Acht starke Scheinwerfer, deren Lichtbündel und Strahlhitze gründlich zermürben konnten. Oberst Smolka zeigte höflich auf den Stuhl, als lade er zu einem gemütlichen Tee ein. Sassonow blieb hinter der Lehne stehen. Die Scheinwerfer brannten noch nicht; ihre Anwesenheit sollte zunächst nur andeuten, was man von ihnen erwartete.
»Nicht doch, Oberst Smolka«, sagte Sassonow ruhig. »Wollen wir in einem solchen Ton miteinander reden? Es hat doch keinen Sinn! In einem solchen Lichtkasten bekommen Sie mich nur zum Schwitzen – was hätten Sie davon?«
»Wir wissen jetzt schon mehr über Sie, Major von Labitz.« Smolka lehnte sich zurück. Sein väterliches Gesicht wirkte etwas grämlich. »Sie mögen es Heldentum nennen, wenn Sie sich hier zerbrechen lassen. Ich nenne es Wahnsinn! In wenigen Tagen hat die deutsche Front in Rußland aufgehört zu existieren. Dann gibt es nur noch zurückrennende deutsche Soldaten. Unsere Offensive von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer ist die größte militärische Aktion, die je in der Kriegsgeschichte der Welt abgelaufen ist. Unsere Übermacht ist erdrückend. Man kann uns nicht mehr aufhalten!«
»Das weiß ich!« sagte Sassonow und setzte sich. »Aber warum Sie das einem nackten Mann erzählen …« Er schlang die Decke wieder enger um sich.
»Sie wollen also sterben für einen verlorenen Krieg?«
»Nein! Sie sehen das falsch, Herr Oberst. Man kann Ihnen das nicht verübeln, denn Sie kennen die Situation ja nicht. – Ich habe etwas zu vollziehen, was ich bereits bin: Es gibt mich nicht! Sie wollen von einem Toten Informationen. – Bitte sehen Sie ein, daß so etwas nicht möglich ist. Mit Heldentum oder sturer Pflichterfüllung hat das gar nichts zu tun. Mehr ist nicht zu sagen.«
»Ihre Ansicht!« Smolka legte die Fingerspitzen aneinander und stützte das Kinn darauf. »Wir wissen: Sie sind deutscher Offizier. Wir haben gefunden: in den beiden abschraubbaren Absätzen Ihrer Schuhe einen zusammensetzbaren kleinen Kurzwellensender amerikanischer Bauart. Von diesem Typ hatten wir bisher keine Ahnung – ich gebe es zu. Wir haben ihn ausprobiert, aber wir kennen die Frequenz nicht und nicht ihren Code. Der Sender aber beweist uns: Sie sind nicht allein in Rußland! Sie haben Kontakt zu anderen Spionen oder Saboteuren. Sie gehören einer Gruppe an! Sie waren mit einer Zyankali-Kapsel ausgerüstet – also ist Ihr Auftrag von größter Bedeutung! Absolutes Schweigen! Wir wissen auch noch: Ihre gesamte Kleidung, von den Schuhen über Strümpfe, Unterwäsche, Hemd und Anzug bis zu dem Kamm in Ihrem Rock, dem Tabaksbeutel und den Streichhölzern ist russischer Herkunft. Ihre Papiere sind einwandfrei. Ihr Auftraggeber hat Sie zu einem vollkommenen Russen gemacht!
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