Sie waren zehn
fürchterlich zuschlagen.«
»Es ist ein Trick dabei. Wir haben es von den Chinesen gelernt.«
»Sie waren schon in China?«
»Nein. Wäre nicht Krieg – ich wäre aus meinem Heimatort wohl nie herausgekommen. Kennen Sie Nowo Karpyrdak ? Natürlich nicht. Wer kennt es schon? Am Fuße des europäischen Urals liegt das Nest, am Flachen Jurjuzaw . Die nächste größere Stadt ist Perm. Aber der Krieg hat uns weit herumgetrieben.« Er kam auf sie zu, und sie wich nicht vor ihm zurück. Die Andeutung eines traurigen Lächelns überhauchte ihr Gesicht. Mit der rechten Hand hielt sie das zerrissene Kleid zusammen, mit der linken fuhr sie sich durch das zerzauste, dunkelblonde, volle Haar. »Wo kann ich Sie hinbringen, Genossin?«
»Ich heiße Jelena Lukinischna Puschkina«, sagte sie und seufzte dabei, als fiele damit der letzte Schrecken von ihr ab.
»Piotr Mironowitsch Sepkin.«
»Sie waren sehr mutig, Piotr Mironowitsch.«
»Sie haben auch laut genug geschrien, Jelena Lukinischna. Was bleibt einem Mann da anderes übrig?«
Plötzlich lachten sie … scheu, verhalten, mehr nach innen, befreiend, erlöst und dankbar. Sie suchten sich einen Weg zwischen Steinhaufen und Sandbergen, liefen um den Neubau herum und hielten erst auf der Uliza Alekseja Tolstogo an, wo sie sicher waren, nicht mehr von den beiden betrunkenen Rotarmisten verfolgt zu werden – sofern die noch leben sollten.
Jelena blickte an sich herunter und drückte sich schamhaft in eine Haustürnische. Sie nestelte an ihrem Kleid, aber der Stoff war über ihren Brüsten so zerfetzt, daß auch ein Zusammenraffen nichts mehr half. Außerdem hatte der andere Soldat das Kleid auch am Rücken zerrissen, wo man nichts mehr verdecken konnte.
»Ich muß mit der U-Bahn nach Hause«, sagte sie. »Aber so kann man doch nicht fahren. Alle Leute werden mich anstarren. Soll ich mich in den Wagen stellen und rufen: Seht euch das an! Das haben zwei Rotarmisten mit mir gemacht! Warum glotzt ihr so? Ja, ich habe mich gewehrt! – Und sie werden schadenfroh grinsen und sich denken: Schade um das Kleid! Wo will sie jetzt ein neues Kleid hernehmen? Hätte lieber ihr Kleid retten sollen – das bekommt sie nicht wieder. Das andere kann man abwischen … Welch ein blödes Mädchen!« Sie schüttelte den Kopf. »Ich schäme mich, Piotr Mironowitsch. Was soll ich tun? Zu Fuß ist es zu weit nach Hause. Ich muß bis zur Station Turgenewskaja fahren.«
»Es gibt zwei Möglichkeiten.« Sepkin baute sich breit vor ihr auf wie ein schützendes Tor. »Wir rufen die Miliz, und die bringt Sie nach Hause. Allerdings wird es eine große Untersuchung geben, man wird die Soldaten verhaften.«
»Und Sie auch, Piotr Mironowitsch, weil Sie sie geschlagen haben!«
»Auch mich, das ist sicher! Man wird ein langes Protokoll anfertigen, wir werden in die Akten der Polizei kommen …«
»Das alles will ich nicht.«
»Dann bleibt nur die zweite Möglichkeit: Sie ziehen meine Jacke an, und wir fahren gemeinsam mit der U-Bahn zu Ihrer Wohnung.«
»Ich schäme mich so«, sagte sie wieder.
»Dazu ist kein Anlaß.« Sepkin streifte seine alte Jacke ab und wünschte sich, man hätte ihm in Eberswalde einen besseren Rock gegeben. Dieser hier stank nach Schweiß und bitterem Tabak, wies auch noch Flecken der Landung auf, die mit Ausbürsten allein nicht wegzubringen waren, und überhaupt hinterließ Sepkin einen Allgemeineindruck, der ein so junges, hübsches Mädchen nicht animieren konnte, sich für ihn zu interessieren.
Er ließ Jelena Lukinischna in seinen Rock schlüpfen, sie knöpfte ihn zu und sah nun aus wie ein trauriger weiblicher Clown des Moskauer Staatszirkus. Sepkin erriet ihre Gedanken und wedelte mit der rechten Hand.
»Wer Sie auslacht, Jelena, den werde ich ohrfeigen!« sagte er. »Und wenn ich den ganzen U-Bahn-Wagen ausräume …«
»Oje! Sie prügeln sich gern, Piotr Mironowitsch?«
»Für Sie – immer!«
»Wie soll ich das alles meinem Vater erklären?«
»Sie wohnen bei Ihren Eltern?«
»Nur mein Vater lebt noch. Mamuschka starb vor einem Jahr.« Sie blickte an Sepkin vorbei auf die Straße, löste sich dann aus der Dunkelheit der Türnische und trat in die helle Nacht hinaus. Sepkin folgte ihr, legte den Arm um ihre Schulter, und sie wehrte ihn nicht ab. Er merkte, daß sie sehr wachsam wurde, daß ihre Muskeln sich strafften. »Sie hat den Tod von Jurij nie überwunden«, fuhr sie leise fort. »Jurij war ein schöner Junge. Groß, blond, stark wie ein Stier. Und
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