Sie waren zehn
kürzer, denn Kragen schaben sich mehr ab als freihängende Lappen. Was tat das Tantchen Pelageja? Ritsch – ratsch hinten ab und am Kragen dran. Zwei Jahre lang. Der Erfolg? Onkelchen hatte immer einen gepflegten Kragen, aber nach zwei Jahren einen Schließmuskelkrampf! Chronisch! Ein anständiger Hintern hat das Recht, auch anständig bekleidet zu sein!«
»Alle Sachen sind desinfiziert worden.« Hansekamm stand mitten unter den zehn, die sich umzogen und zu russischen Menschen wurden. Arbeiter, Bauern, Kleinbürger. »Ihr gekürztes Hemd, Luka Iwanowitsch, entspricht Ihrem Lebensstandard.«
»Ein jammervolles Dasein! Warum hat man ausgerechnet mich zum Dachdecker gemacht?«
»Sie haben in Ihrem vorletzten Urlaub das Dach des elterlichen Hauses gedeckt«, sagte Renneberg. »Stimmt's?«
»Er weiß alles!« Petrowskij zog sein verkürztes Hemd über. »Was habe ich am Abend des 19. Oktober 1941 getan?«
»Da hatten Sie eine Woche Urlaub nach dem Lehrgang in der Kriegsschule. Vermutlich haben Sie mit einem knackigen Mädchen im Bett gelegen …«
»Er weiß wirklich alles!« Petrowskij stieg in seine brettharte, ausgeblichene Hose. »Aber eins weiß er noch nicht: Daß ich der erste sein werde bei Milda Ifanowna in der Lesnaj auliza 19!«
Am Abend tranken sie Krimsekt, sang der kleine Plejin traurige und fröhliche Volkslieder, tanzten Tarski und Sepkin, sich unterfassend, einen knalligen Krakowiak. Sogar eine Balalaika gab es, Kraskin hatte sie zwischen die Beine geklemmt und spielte auf ihr, als habe er in seinem Leben nie etwas anderes getan. Petrowskij glänzte mit einem unerschöpflichen Repertoire von säuischen Witzen, Boranow besoff sich still, Bunurian und Sassonow spielten trotz des Lärms eine Partie Schach mit Remis, Iwanow, das blonde Lockenköpfchen, entpuppte sich als Parterre-Akrobat und zog eine zirkusreife Nummer ab, und Duskow spielte die Pantomime von einem Herrenreiter, dem sein Pferd durchgeht.
Um ein Uhr nachts schaute Renneberg provozierend auf seine Uhr.
Ende der Feier. Schluß mit der Demonstration krampfartiger Lebenslust. Ende des Selbstbetruges.
»Wir fahren in fünf Gruppen ab. Die erste schon in fünf Stunden.« Renneberg machte eine ausgreifende Armbewegung über die zehn – aber wie ein Segen sah's nicht aus. »Schlafen Sie kurz, aber gut. Wir sehen uns um 6 Uhr früh.«
Die Fröhlichkeit tropfte von ihnen ab wie ein Wasserguß. Sie nickten und verließen stumm den Gemeinschaftsraum. Hinter dem letzten – es war Boranow, der am Rande der Volltrunkenheit torkelte – schloß Renneberg die Tür.
Er schloß sie ab und steckte den Schlüssel ein.
Vorbei! Aus dem Zimmer war Historie geworden, die wahrscheinlich nie jemand schreiben würde.
Auszug aus dem Brief des Maschinenbauingenieurs Pawel Fedorowitsch Sassonow, früher Major Bodo von Labitz, an seine Frau Enrica und seinen vor wenigen Wochen geborenen Sohn William Heiko:
»… es ist nun die letzte Nacht in Deutschland, in der ich an euch denke. Auch in Rußland, wo immer ich sein werde, fliegen meine Gedanken zu euch und werde ich mit euch sprechen, wenn ich alleine bin. Mein Sohn – später wirst Du Deinen Vater einmal fragen – oder wirst Deine Mutter fragen, wenn wir uns nie sehen sollten: Warum hast Du das getan? Was treibt einen erwachsenen, halbwegs intelligenten, nüchtern denkenden Mann dazu, ohne Vorbehalt das zu tun, was Du, Vater, in den letzten Stunden in Deutschland getan hast?! Erkläre mir das! – Und ich werde Dir heute schon antworten können: Ich habe keine Erklärung dafür.
Offiziersstolz? – Nein, Junge, das ist ein billiger Stolz, der mit jedem silbernen Stern wächst, so wie die Schichten eines Baumkuchens. Wo ist der Unterschied zwischen dem Stolz eines Majors oder dem Stolz eines Kaminfegers? Stolz, mein Sohn, hat immer den üblen Nachgeschmack des Unnahbaren, des überlegenen, des Mehr-sein-Wollens. Nein – ich bin nicht stolz, in dieser Nacht hier zu sitzen und Abschied von euch zu nehmen. Mir ist hundeelend.
Pflichtgefühl? – Irgendwann hört jede Pflicht auf – wenn sie unzumutbar wird. Die Grenze ist hier längst überschritten.
Vaterlandsliebe? – Ein Schlagwort. Du wirst das später eher begreifen als ich. Du wirst in einer anderen Zeit aufwachsen, die euch kein Lebensbild diktieren wird, wie es uns heute suggeriert wird. Ich liebe Deutschland – aber mehr noch liehe ich Dich, mein Junge, liebe ich Dich, meine schöne Frau Enrica. Und es brauchte das Land, in dem ich mit
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