Sie waren zehn
euch glücklich bin, nicht Deutschland zu heißen – wenn ich nur euch bei mir habe! Das klingt alles sehr ketzerisch. Für euch, die spätere Generation, wird es selbstverständlich sein. Ihr werdet fragen: Warum hast du dich nicht geweigert? – Und ihr werdet maßlos erstaunt hören und es nicht glauben, wenn man euch antwortet: Es war nicht möglich. Es war Krieg! An der Atlantikküste rollten Amerikaner und Engländer die deutsche Front auf, aus dem Osten fluteten die bolschewistischen Heeresgruppen nach Deutschland. Wir wurden zerquetscht! Was wirst Du tun, mein Junge, wenn Du zwischen einem riesigen Schraubstock hängst und die Backen drücken Dich unbarmherzig zusammen? Auch wenn es Deine eigene Schuld ist, in diese Lage gekommen zu sein: Du wirst Dich wehren gegen diese tödliche Umklammerung, Du wirst um Dich schlagen, Du wirst nicht aufgehen bis zum letzten Atemzug! Du willst leben.
Ist es nicht schizophren, daß ich euch vom Leben schreibe, während dies hier mein letzter Brief sein wird? Ich weiß auch gar nicht, warum ich ihn schreibe. Eine Rechtfertigung ist er nicht, kann er nicht sein, denn auf alle meine Fragen, die ich mir unablässig stelle, kann ich keine Antwort geben.
Vielleicht soll mein Brief das sein: Die Frage an euch, meine geliebte Frau Enrica, mein kleiner Sohn William Heiko, ob ihr dem Mann verzeihen könnt, der euch heute freiwillig verläßt. Freiwillig – das ist es, was mich so verstört macht. Ich gebe euch, mein Liebstes auf dieser Welt, für immer auf …«
Sassonow las den Brief noch einmal durch, als er ihn beendet hatte. Er las ihn hörbar, mit leiser Stimme. Zum Ende wurde sie immer leiser und erstarb in einem zerflatternden Flüstern. Sassonow erhob sich, zündete den Brief an und hielt das Papier so lange über einen Aschenbecher, bis es verkohlt war.
Dann zerrieb er die Asche zwischen den Händen, trug sie zum Fenster und streute sie in den warmen märkischen Nachtwind. Mit einem neuen Rätsel mußte er fertig werden: Er fühlte sich innerlich befreit und leicht.
Der Morgen war kühl. Über den blaßblauen, von der soeben aufgegangenen Sonne milchig erhellten Himmel zogen im trägen Wind einige Haufenwolken nach Westen. Es war kühler als in den vergangenen Tagen, die Luft war feuchter, das Wetter schien umzuschlagen. Über dem Land lag Tau. Die Wälder und Wiesen schimmerten naß, wie gewaschen. Aus den Feldern stiegen die Lerchen hoch; eine Gruppe Trappen umkreiste mit klatschendem Flügelschlag einen kleinen, verschilften Tümpel.
In den Ställen der Offiziersreitschule hatte der Dienst bereits begonnen. Nach dem alten Soldatenmotto ›Zuerst das Pferd, dann der Mann‹ wurden die Boxen ausgemistet, die Pferde gefüttert und gestriegelt. Zum Morgenappell mußte alles blitzen, dann ging der Hauptwachtmeister mit weißen Handschuhen von Pferd zu Pferd und strich über das Fell. Blieb eine Schmutzschicht auf den weißen Handflächen zurück, hagelte es Ausgehverbote, nächtliche Stallwachen, Strafexerzieren. Der Drill ging weiter, auch im fünften Kriegsjahr. Ob in der Normandie die Alliierten von Stunde zu Stunde fester Fuß faßten, ob in Rußland der entscheidende Schlag gegen die deutschen Stellungen kurz bevorstand, ob in Italien die Lage völlig verwirrt war – in Eberswalde vergaß man keine Minute lang, was preußische Kasernenhoftradition ist.
Kurz vor 6 Uhr früh standen zehn Zivilisten in abgetragenen Anzügen und schmutzigen Schuhen im Vorraum des abgesperrten Blocks II und rauchten schauerlich stinkende, aus Zeitungspapier gedrehte Zigaretten. Sie lehnten stumm an den Wänden, blickten auf die gescheuerten Dielen und kamen sich wie jenseits ihrer Umwelt vor. Die letzten Zeugen ihrer Identität hatten sie vor einer Viertelstunde abgegeben: ihre Uhren, ihre Unterwäsche, kleine persönliche Dinge wie ein Taschenmesser, eine Zigarettenspitze, einen Siegelring, die Brieftaschen mit den Fotos der Eltern, Geschwister, hübscher Mädchen und einer schönen, blonden Frau, die Geldbörsen, die Brustbeutel, die doppelte, in der Mitte perforierte Erkennungsmarke, ein paar Taschentücher, Streichholzschachteln, Feuerzeuge. Alles wurde in großen Tüten eingesammelt und weggebracht.
Pawel Fedorowitsch Sassonow hatte einen Augenblick gezögert, ehe er seinen Trauring vom Finger zog. Es war mehr als ein Abgeben – es war der letzte Schritt zur völligen Auflösung seiner Person. Geduldig, ohne mit einem Wort nachzuhelfen, wartete Oberstleutnant Hansekamm mit der
Weitere Kostenlose Bücher