Sieben Jahre später
fort: »Vermisstenmeldungen werden von den örtlichen Behörden bearbeitet, es sei denn, die Ermittlungen erstrecken sich über die Grenzen eines Bundesstaates hinweg oder es handelt sich um das Verschwinden eines Minderjährigen. In diesem Fall greift das FBI ein, und zwar über das CARD, das Child Abduction Rapid Deployment. Ich kenne dort jemanden und habe ihn angerufen, um Jeremys Verschwinden zu melden. Sie erwarten uns in ihrem Hauptquartier in Midtown, in der Nähe des MetLife Building.«
»Okay, ich komme mit«, sagte Nikki.
»Ich nehme mein eigenes Auto«, erklärte Sebastian.
»Das macht keinen Sinn, ich habe einen Dienstwagen, mit dem Blaulicht kommen wir schneller durch die Staus.«
Sebastian warf Nikki einen kurzen Blick zu.
»Wir treffen dich beide vor Ort, Lorenzo.«
»Ausgezeichnete Idee!«, erwiderte dieser ironisch. »Dann verlieren wir noch etwas mehr Zeit.«
Da ihm jedoch klar war, dass sie bei ihrem Entschluss bleiben würden, ging er zur Tür.
»Schließlich ist es euer Kind«, sagte er und schlug sie hinter sich zu.
Der Abgang des Cops milderte allerdings weder die Anspannung noch die Verwirrung. Als Nikki und Sebastian wieder allein waren, sahen sie sich zögernd an. Aus lauter Angst, eine falsche Entscheidung zu treffen, hatten sie Mühe, die gesammelten Informationen zu analysieren: Jeremys Verschwinden, seine Vorliebe für Poker, die Drogen …
Instinktiv kehrten beide in das Zimmer ihres Sohnes zurück. Gerade noch rechtzeitig war es Sebastian gelungen, das Abflussrohr der Toilette mit einem Besenstiel frei zu machen. Doch auch wenn jetzt die letzte Spur der Drogen beseitigt war, hatte sich das Problem noch lange nicht erledigt, und der Zwischenfall war nicht nur ein böser Traum.
Auf der Suche nach einem Hinweis nahm Sebastian den Alukoffer und seinen Inhalt genauer in Augenschein. Kein doppelter Boden, keine besondere Aufschrift, weder auf den Spielkarten noch auf den falschen Keramikjetons. Das Innere des Koffers war mit Noppenschaumstoff ausgekleidet und besaß eine Tasche. Er schob die Hand hinein. Nichts … außer einem Bierdeckel. Auf der einen Seite Werbung für eine Biermarke, auf der anderen eine stilisierte gekrümmte Klinge – das Emblem einer Bar
Bar Boomerang
17, Frederick Street Bushwick
Inhaber: Drake Decker
Er reichte Nikki den Untersetzer. »Kennst du die Kneipe?«
Nikki schüttelte den Kopf.
Doch Sebastian insistierte: »Dort hat er doch sicher Poker gespielt oder?«
Er suchte ihren Blick, hatte ihn aber verloren.
Nikki war plötzlich totenbleich geworden und zitterte am ganzen Körper. Sie schien völlig abwesend, ihre glänzenden Augen starrten ins Leere.
»Nikki!«, rief er
Sie rannte unvermittelt aus dem Zimmer. Auf der Treppe holte er sie ein und folgte ihr ins Bad, wo sie eine Valiumtablette einnahm.
Er legte ihr die Hände auf die Schultern.
»Beruhige dich bitte.«
Er bemühte sich, ihr seinen Plan darzulegen.
»Hör gut zu, wir werden Folgendes tun: Du hängst den Beiwagen ab und fährst mit dem Motorrad nach Manhattan. So schnell wie möglich. Du musst Camille bei Schulschluss abfangen.« Er sah auf die Uhr. »Die Schule ist um zwei Uhr zu Ende. Wenn du gleich mit dem Motorrad losfährst, kannst du es schaffen.«
»Warum machst du dir Sorgen um sie?«
»Ich weiß nicht, was das Koks in Jeremys Zimmer zu suchen hatte, aber ganz offensichtlich wollen die Typen, denen der Stoff gehört, ihn zurückhaben.«
»Sie wissen, wer wir sind.«
»Ja, sie kennen deine Adresse und sicher auch die meine. Wir sind also alle in Gefahr: du, ich, Jeremy und Camille. Ich hoffe, ich irre mich, aber ich will kein Risiko eingehen.«
Paradoxerweise schien das Aussprechen dieser Bedrohung ihnen neuen Auftrieb zu geben.
»Wohin soll ich sie bringen?«
»Zum Bahnhof. Setze sie in den Zug nach East Hampton und schicke sie …«
»… zu deiner Mutter.«
»Dort ist sie in Sicherheit.«
Kapitel 13
Das Gebäude der St. Jean Baptiste High School erinnerte an einen griechischen Tempel. Die symmetrische Fassade aus grauem Marmor wurde von Giebeldreiecken und fein behauenen dorischen Säulen geschmückt.
Scientia potestas est, Wissen ist Macht . Das in Stein gemeißelte Motto erstreckte sich stolz zu beiden Seiten des monumentalen Eingangs, der dem Schulgebäude den Anschein eines Sakralbaus verlieh. Die Härte des Steins wurde durch Vogelgesang und das Sonnenlicht gemildert, das durch das orangefarbene Laub fiel. Dieser aristokratische Ort verströmte
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