Sieben Jahre später
sagte Nikki.
»Hör auf zu trinken, sonst bist du gleich blau. Außerdem ist unsere Flasche leer.«
»Na und! Wenn ich Lust habe, mich zu betrinken, ist das immer noch meine Sache! Meine Art, mit dem fertigzuwerden, was uns widerfährt.«
Nikki erhob sich und sah sich auf der Suche nach einer Flasche um. Auf einem Serviertisch in der Nähe der Bar entdeckte sie schließlich eine kaum angebrochene und brachte sie mit.
Unter dem konsternierten Blick ihres Exmannes füllte sie ihr Glas erneut.
Verärgert schaute er aus dem Fenster. Es folgte ein weiterer Höhepunkt der Bootsfahrt: Das Schiff erreichte die Stahlbrücke Pont Charles-de-Gaulle. Moderner als die anderen glich sie einem Flugzeugflügel, bereit, die Luft zu zerteilen.
Dann erhellten die starken Scheinwerfer das Ufer und enthüllten ein unerwartetes Elend. Unterhalb der Brücke hatten sich zahlreiche Obdachlose mit ihren Habseligkeiten, Zelten und Kohlebecken eingerichtet. Bei diesem Anblick fühlten sich die Passagiere unwohl, und die bislang fröhliche Stimmung wurde vorübergehend getrübt. Allerdings dauerte das Unbehagen nicht lange an. Die Fahrt ging weiter zu den verglasten Türmen der Grande Bibliothèque, dann wurde auf der Höhe von Bercy gewendet, und das Schiff fuhr am rechten Seineufer entlang zum historischen Paris, das man von Postkarten und Broschüren kannte, und man vergaß den Zwischenfall.
Wieder ein Schluck Wein.
Der Alkohol trübte zwar Nikkis Bewusstsein, doch er steigerte auch ihre Sensibilität. Sie war überzeugt davon, etwas ganz Offensichtliches übersehen zu haben. Nicht die rationale Analyse, sondern ihr mütterlicher Instinkt würde ihr helfen, Jeremy wiederzufinden. In solchen Situationen war die Intelligenz des Herzens nützlicher als Logik und Vernunft.
Statt zu versuchen, ihre Gefühle zu unterdrücken, gab sie sich ihnen hin. Sie ließ ihren Tränen und den Bildern in ihrem Kopf freien Lauf. Gegenwart und Vergangenheit vermischten sich. Aber sie durfte sich nicht von ihren Emotionen mitreißen lassen, sondern musste sie konstruktiv einsetzen, um die geheime Nachricht entschlüsseln zu können.
Aufmerksam sah sie nach draußen. In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken, sodass ihr fast übel wurde. Die Erinnerungen drehten sich wie ein Strudel, verformten, vermischten und überlagerten sich.
Die Musik war zu laut. Um sie herum klatschten die Leute im Takt. Auf der Tanzfläche hatte jetzt das Personal die Animation übernommen. Kellner und Bedienungen tanzten zu einer russischen Melodie.
Kalinka, kalinka, kalinka moja …
Sie trank noch einen Schluck Wein. Trotz der Hitze fröstelte Nikki. Zusammen mit dem zuckenden Licht bereitete ihr der Refrain Kopfschmerzen.
Kalinka, kalinka, kalinka moja …
Das Schiff steuerte seinen Ausgangspunkt an. Draußen sah sie die Aussichtstürmchen und Maskaronen des Pont Neuf und dahinter den Pont des Arts. Sie betrachtete das Geländer der Fußgängerbrücke. Es blitzte und funkelte. Sie kniff die Augen zusammen und erkannte Hunderte, ja Tausende von Vorhängeschlössern, die entlang der Brücke angebracht waren.
»Ich weiß, zu welchem Schloss der Schlüssel gehört!«
Sie deutete auf den in der Tischplatte eingelassenen Videoguide. Beide beugten sich vor und lasen den Text zu diesem Bauwerk.
Nach dem Vorbild des Ponte Pietra in Verona oder der Luschkowbrücke in Moskau ist der Pont des Arts seit einigen Jahren zum bevorzugten Ort der Verliebten geworden, die hier zum Zeichen ihrer ewigen Bindung »Liebesschlösser« anbringen.
Das inzwischen weitverbreitete Ritual ist immer gleich: Das Paar bringt sein Vorhängeschloss am Geländer an, wirft dann den Schlüssel über die Schulter ins Wasser und besiegelt seine Liebe mit einem Kuss.
»Wir müssen sofort aussteigen!«
Sie erkundigten sich beim Oberkellner. Das Schiff würde in knapp fünf Minuten den Pont de l’Alma erreichen.
Aufgeregt liefen Nikki und Sebastian zur Reling, um, sobald das Schiff anlegte, als Erste aussteigen zu können. Die L ’ Amiral glitt am Louvre und am Port des Champs-Élysées vorbei und erreichte ihren Liegeplatz.
Als sie gerade auf den Steg eilen wollten, hielt Nikki Sebastian am Arm zurück.
»Warte! Da ist die Polizei!«
Sebastian suchte den Kai ab. Eine Frau in einem Lederblouson und ein junger Mann steuerten mit entschlossenem Schritt auf die Gangway zu.
»Meinst du?«
»Das sind Bullen! Glaub mir!«
Dann entdeckte er etwas weiter einen Peugeot 307 in den Farben der
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