Sieg der Leidenschaft
Kind - ein kleines Kind, das spitzbübisch und hinreißend lächelte. Ein hübscher dunkelhaariger Bursche mit einem eigenen Willen. Selbst wenn er sich schlecht benahm, tat er es auf so bezaubernder Art, dass man ihm vieles nachsah. Jetzt spielte er ... Der Traum wirkte verschwommen. So als würde eine Nebelwolke ihr Schlafzimmer erfüllen, in der das Kind spielte. Eine Balkontür stand offen. Da waren auch andere Kinder. Aber die konnte sie in den grauen Schleiern nicht sehen - nur den kleinen Jungen. Plötzlich kletterte er auf das Balkongeländer ...
»Nein! Nein!« Verzweifelt wand sie sich im Schlaf umher und versuchte, ihn zurückzuhalten.
»O Gott, nein - bitte, nicht ...«
Und dann stürzte er hinab - und fiel - und fiel...
»Wach auf, Rhiannon!« Sanfte Hände rüttelten sie an den Schultern und sie schaute in die angstvollen blauen Augen ihrer Schwiegermutter.
Erschrocken fuhr Rhiannon hoch. Wo mochte sie sein? In Julians Haus. Im sicheren Hafen von Cimarron. Wenn Julian auch weit weg war. Depeschen hatten den Staat durchquert. Deshalb wusste sie, dass es ihrem Mann einigermaßen gut ging. Und Tia auch. In seinem letzten Brief hatte Julian den Eindruck erweckt, er wäre sehr müde und nicht mehr an der Frage interessiert, ob der Süden den Krieg gewinnen würde oder nicht. Nach der Schlacht von Olustee waren die Schwerverletzten scharenweise ins Lazarett gebracht worden. Doch diese Tortur hatten Tia und Julian mittlerweile überstanden. Und Rhiannon musste sich, fern von ihrem Mann, auf Cimarron von der Geburt ihres kleinen Sohnes erholen, der ihr wie ein wunderbares Weihnachtsgeschenk erschien - ein Geschenk des Lebens inmitten des Todes ... »Conar!« Schreiend sprang sie aus dem Bett ihres Mannes, ohne ihre besorgte Schwiegermutter zu beachten, rannte in die Ecke des Zimmers und riss das schlummernde Baby aus seinem Körbchen. So unsanft geweckt, begann es wie am Spieß zu brüllen.
»Rhiannon, du zitterst - gib ihn mir«, mahnte Tara McKenzie leise.
Verwirrt wandte sich Rhiannon zu ihr, gehorchte sofort und schlug die Hände vors Gesicht. »Ein schlimmer Traum ...«
»Von deinem Baby?«
»Ja ...« Beklommen erzählte Rhiannon, was sie geträumt hatte. Dann zögerte sie und setzte sich aufs Bett. Tara nahm neben ihr Platz und beruhigte ihren weinenden Enkel. »Nein, nicht Conor ...« Ihre Schwiegertochter holte tief Atem. »Ein älteres Kind ...« Oder eine Zukunftsvision von ihrem Sohn in späteren Jahren? Nein, das würde sie wissen. »In einem anderen Haus, einem großen, schönen Gebäude an einer belebten Straße. Dauernd kommen und gehen Leute. Die Tapete in der Eingangshalle sieht wie Marmor aus. In einem Kinderzimmer steht ein Schaukelpferd. So wie in Tias altem Zimmer. Und so viele Spielsachen und Puppen ... Könnte ich die Eltern des Kindes bloß rechtzeitig warnen!«
»Vielleicht findest du eine Gelegenheit dazu.« Tara zweifelte nicht an Rhiannons Fähigkeit, in ihren Träumen seltsame Dinge vorauszusehen. Wie Julian oft betonte, hatte seine Frau dank dieser Gabe schon viele Menschen vor Tragödien bewahrt. Sogar Generäle hörten auf ihre Warnungen.
Mitfühlend musterte Tara das unglückliche Gesicht ihrer Schwiegertochter. Ein Kind schwebte in Gefahr. Und Rhiannon konnte ihm nicht helfen.
Inzwischen war das Baby wieder eingeschlafen. Tara legte es ins Körbchen, dann setzte sie sich zu Rhiannon, nahm sie in die Arme und strich tröstend über das lange dunkle Haar. »Reg dich nicht auf, meine Liebe. Wir werden unser Bestes tun und keins der kleinen Kinder, die wir kennen, unbeaufsichtigt auf einem Balkon spielen lassen.«
»Gerade die Kinder sind so wichtig - weil sie uns aus dem Abgrund dieses Krieges führen müssen, in den wir gestoßen wurden.«
»In gewisser Weise beneide ich sie - weil sie eine neue Welt aufbauen können«, erwiderte Tara lächelnd, ließ Rhiannon los und stand auf. »Soll ich dir ein Glas warme Milch bringen?«
»Nein, danke, nicht nötig. Tut mir Leid, dass ich dich gestört habe. Jetzt kann ich sicher schlafen.«
Tara küsste die Stirn ihrer Schwiegertochter, ging hinaus und schloss leise die Tür hinter sich.
In dieser Nacht fand Rhiannon keine Ruhe mehr. Behutsam hob sie ihren schlafenden Sohn aus dem Körbchen, legte ihn neben sich ins Bett und bewachte ihn bis zum Morgen.
Am Tag nach General Ropers Party ritt Tia mit Julian südwärts. Ihr Bruder hatte sie vor der langen, beschwerlichen Reise gewarnt. Wegen der Verletzten, die sie in einem
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