Sieg der Liebe
das Pferd zitterte und unbehaglich wieherte, hielt Jerusa es weiter fest. „Ruhig, meine Hübsche, ruhig. Ich habe niemals Geschichten erzählt, anders als ein gewisser Franzose, der damit nicht aufhören kann.“
Wieder lachte Michel leise. „Ah, ma cherie, ich habe dich niemals angelogen“, sagte er heiter, „aber du wirst mir nicht glauben.“
„Sag mir, warum du mich geküßt hast.“
„Das kann ich dir ganz leicht erklären, meine liebe Jerusa!“ Atemlos wartete sie auf eine Antwort, während er leise auf den Wallach einsprach. „Ich habe dich geküßt, weil wir beide es wollten.“
„Das ist nicht wahr!“
„Siehst du es jetzt ein? Ich bin ehrlich, aber du glaubst mir nicht.“
Ein frischer Windstoß wehte ein paar Blätter, die von den Ästen gefegt worden waren, zur Tür herein, und als Abigail die Nüstern blähte, stieg auch Jerusa der Geruch von salziger Luft, die aus dem Osten, vom Meer her kam, in die Nase. Abigail wich zurück, und Jerusa vergaß, Michel zu antworten, während sie mit der Stute beschäftigt war.
Plötzlich war vom Hof her ein lautes Krachen zu hören, gefolgt von einem Zischen, als würde ein heißer Schürhaken in kaltes Wasser getaucht werden. Gleich darauf vernahm sie das gedämpfte Geräusch von splitterndem Holz.
Mit klopfendem Herzen drehte Jerusa sich in die Richtung, aus der der Lärm kam, gerade rechtzeitig, um die letzte aufrecht stehende Wand des verlassenen Hauses durch einen Blitz in Flammen aufgehen zu sehen. Vor ihren Augen flogen die ersten Funken mit dem sich kräuselnden Qualm zum ehemaligen Hühnerstall, und auch dieser brannte sofort lichterloh.
Und direkt im Westen, in der Richtung, die das Feuer nahm, lag ihr Quartier.
Michel rief ihr etwas zu, aber als sie sich zu ihm umdrehte, sprang Abigail zurück und befreite sich aus Jerusas Griff. Ängstlich versuchte Jerusa, das Halfter zu fassen, da warf die Stute den Kopf zurück und traf ihr in die Seite, direkt unter ihren erhobenen Arm.
Verwirrt und seltsam verlangsamt nahm sie wahr, daß sie hochgeschleudert wurde und durch die Luft flog, bis sie unsanft auf dem Stallboden landete. Ihr ganzer Körper schmerzte. Sie bemühte sich, zu Atem zu kommen, doch die Luft war erfüllt vom Qualm, der ihr in den Augen brannte.
„Jerusa?“ rief Michel und versuchte, Buck zu beruhigen. „Jerusa!“
Wo war sie nur? Warum antwortete sie nicht? Immer mehr Rauch drang in den Stall, und es konnte sich nur noch um Minuten handeln, bis der Wind die Flammen auch hierher getrieben hatte.
„Komm jetzt, Buck, wir haben uns hier lange genug aufgehalten“, sagte Michel, als er das Pferd aus der Box führte. „Du bist ein tapferer Kerl, und ich weiß, du schaffst es.“
Hustend führte Michel das Pferd zur Tür. Erneut blitzte es. Er hörte Abigails ängstliches Wiehern, und in dem Sekundenbruchteil, in dem es blitzte, sah er, daß die Stute allein in ihrer Box stand. Aber wo war Jerusa?
„Nur noch ein paar Schritte, Buck, nur ein paar noch“, flü-sterte Michel. Endlich waren sie im Hof. So schnell er konnte, lief er mit dem Pferd zu einem Baum, der sich östlich außerhalb der Reichweite des Feuers befand, und band es dort fest. Endlich fielen die ersten dicken Regentropfen zischend in die Flammen, und als Michel zum Stall zurücklief, hoffte er, daß sie das Feuer löschen würden.
An der Tür blieb er stehen und hielt sich sein Taschentuch vor Mund und Nase. Die Stute hatte sich vor Angst sicherlich nicht aus ihrer Box gerührt, aber wo war Jerusa?
Er rief noch einmal ihren Namen, und wieder kam keine Antwort. Vielleicht war sie schon aus dem Stall davongelaufen, entschlossen, sich selbst zuerst zu retten, aber während Michel über diese Möglichkeit nachdachte, verwarf er sie schon. Jerusa würde so etwas nicht tun. Sie hatte die Stute zu sehr ins Herz geschlossen, um sie jetzt im Stich zu lassen. Jerusa mußte irgendwo im Stall sein, versteckt in den dichten Rauchschwaden.
Warum hatte man ihm ein dummes Mädchen aufgehalst, das sein Leben für ein zweitklassiges Pferd riskierte?
Er tastete sich bis zu Abigails Box vor, strich über den schweißbedeckten Nacken der zitternden Stute, während er ihre Augen mit seinem Mantel bedeckte.
„Wo ist sie, Abigail?“ fragte er leise, während er die Stute vorwärts führte. „Wo ist unsere Jerusa?“
Die Stute scheute, und im nächsten Moment hörte Michel jemand husten. Jerusa hockte auf dem Boden und rang nach Luft. Er ließ das Taschentuch fallen, das er
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