Siegel der Nacht: Mercy Thompson 6 - Roman (German Edition)
bewunderte und nicht sein gut aussehendes Gesicht.
Ihr Sohn war bei weitem nicht so begeistert wie seine Mutter. Robert, erklärte uns seine Mutter, war acht, aber er hatte das Down-Syndrom und hatte vor Fremden genauso viel Respekt wie sonst Zweijährige. Er war nicht
gerade glücklich über die Vorstellung, sich von Adam den Berg hinab zum Parkplatz tragen zu lassen.
Während seine Mutter versuchte, ihn vom Gegenteil zu überzeugen, ging Adam in die Hocke und sah dem Jungen in die Augen. Er sagte kein Wort. Aber nach ungefähr einer Minute nickte der Junge und als Adam wieder aufstand, kletterte er ohne weiteren Protest auf Adams Rücken. Er war immer noch nicht glücklich, aber er wusste jetzt, wer das Sagen hatte.
»Also …«, sagte Roberts Mutter verwirrt.
»Adam ist gut darin, Befehle zu geben«, erklärte ich ihr ehrlich. »Selbst, wenn er nichts sagt.«
Und so trug Adam einen sehr müden und schlecht gelaunten Achtjährigen mit verstauchtem Knöchel den Wanderweg nach unten, während die noch müdere Mutter des Jungen ihm bei jedem Schritt dankte.
»Ich wusste nicht, dass es so steil werden würde«, erklärte mir die Mutter, als Adam seine Schritte verlängerte und uns vorauseilte. Ich hatte das Gefühl, dass er es tat, um ihrem unablässigen Dank zu entkommen, aber vielleicht war ich da auch zu hart.
»Robert war es leid, ständig nur im Auto zu sitzen. Eugene ist noch ein gutes Stück entfernt und ich dachte, es wäre schön, wenn er sich ein wenig austobt; dann hätte er den Rest des Weges geschlafen. Ich hoffe, ihr junger Mann verletzt sich nicht. Robert wiegt fast vierzig Kilo.«
»Machen Sie sich keine Sorgen«, versicherte ich ihr. »Adam war in der Armee. Er kann einen Vierzig-Kilo-Rucksack einen Berg hinuntertragen. Daher kennt er auch den Unterschied zwischen einem verstauchten, einem gezerrten und einem gebrochenen Knöchel.«
Ich hatte nicht vor, ihr zu erzählen, dass er ein Werwolf war, der uns wahrscheinlich alle gemeinsam den Berg hinuntertragen konnte, wenn er nur einen guten Weg fand, uns zu einem Bündel zu verknoten. Adam war in die Öffentlichkeit getreten, aber weder Robert noch seine Mutter sahen aus, als könnten sie an diesem Punkt ihres Ausfluges mit Werwölfen umgehen. Der Teil mit der Armee stimmte – sie mussten ja nicht erfahren, dass es während des Vietnamkriegs gewesen war.
»Lassen Sie den Knöchel trotzdem röntgen«, riet Adam, der keinerlei Probleme hatte, unser Gespräch zu belauschen. »Ich bin kein Arzt und Verstauchungen können schwierig sein.«
Als wir schließlich den Parkplatz erreichten, hatte sich Robert bis auf ein heftiges Humpeln wieder erholt und seine Mutter hatte nicht mehr diesen verzweifelten Ton in der Stimme. Sie dankte uns wieder und Robert küsste Adam kurz auf die Wange.
»Mein Held«, sagte ich zu Adam, als sie losfuhren. »Bist du hier fertig? Oder wollen wir nochmal hoch?«
Zu meiner Freude wanderten Adam und ich noch ein paar Stunden, dann aßen wir in Hood River. Ich hatte noch nie so viel Zeit am Stück mit ihm verbracht. Hier gab es niemanden, der irgendetwas von uns verlangte.
Ich genoss es aus ganzem Herzen. Ich fand es wunderbar zu sehen, wie seine Wachsamkeit nachließ und die Anspannung, ständig auf das Rudel, auf mich, auf seine Tochter und auf sein Geschäft aufpassen zu müssen, sein Gesicht und seinen Körper verließ.
Gewöhnlich sieht Adam aus wie ein Mann Ende dreißig – obwohl Werwölfe nicht altern. Als wir schließlich
zum Truck zurückkehrten, hatte er zehn Jahre abgeschüttelt und wirkte nicht mehr viel älter als seine Tochter. Lachen ließ sein Gesicht strahlen, wie ich es noch nie zuvor gesehen hatte.
Ich hatte das vollbracht. Ich. Okay, ich und Gottes Wasserfälle und Bergwälder. Obwohl es ausgesehen hatte, als könnten wir nicht mal einen Tag hinter uns bringen, ohne dass ich ihn mit in meine Schwierigkeiten reinzog. Obwohl er sich meinetwegen mit Vampiren, Dämonen und Wasserwesen aus dem Feenvolk hatte anlegen müssen. Ich war gut für Adam, obwohl er sogar gegen sein eigenes Rudel hatte kämpfen müssen.
Ich hatte ihn schon sauer erlebt, voller Schmerzen und traurig. Es war um Klassen besser, ihn glücklich zu sehen.
»Was?«, fragte er, als er sich das letzte Stück seines zweiten großen, fast rohen Steaks in den Mund schob. »Warum schaust du mich so an?«
Das schicke kleine Restaurant in dem alten viktorianischen Gebäude schüchterte mich ein wenig ein – nicht, dass ich mir das
Weitere Kostenlose Bücher