Silber
griff dann mit den Händen nach dem Absatz des ersten Balkons, um sich daran hochzuziehen. Der Weg vom zweiten zum dritten war fast noch leichter. Er stellte sich auf das Balkongeländer und streckte sich nach oben. Die nächste Ebene war fünfzehn Zentimeter außerhalb seiner Reichweite, also neigte er seinen Körper ein Stück nach außen und sprang.
Konstantin bekam die Betonkante des Balkonbodens zu fassen und zog sich daran empor, als ob er einen Klimmzug machen würde, dann schwang er seinen Körper zur Seite, hakte das Bein über dem Geländer ein und kletterte so auf den Balkon des dritten Stockwerks. Er wiederholte dieses Manöver, um den vierten Balkon zu erreichen. Oben blieb er einen Moment lang stehen, um einen Blick durch die riesigen Scheiben der Glastüren zu werfen und um sich den Staub von den Händen zu klopfen.
Der Fernseher war eingeschaltet, das Licht der Mattscheibe zeichnete flackernde Schatten auf die harten Konturen der Lounge.
Miles Devere hatte sich in einem ledernen Armsessel niedergelassen. Er hatte die Augen geschlossen und saß leicht zusammengesunken da, als ob er vor Kurzem eingeschlafen wäre.
Konstantin wollte, dass er wach war, wenn der Spaß begann.
Er sah auf seine Armbanduhr. Es war noch nicht ganz Mitternacht. Auf dem Balkon standen mehrere Stühle mit weichen Polstern und hohen Rückenlehnen. Konstantin nahm auf einem davon Platz. Er wollte diese Angelegenheit auf die russische Art regeln. Das hieß, dass er spät nachts, um vier Uhr, schnell und hart zuschlagen würde. Er wollte Devere zu Tode ängstigen, bevor er ihn dazu brachte, zu betteln und zu flehen und ihm alles zu versprechen, was er sich nur wünschte. Konstantin hatte natürlich nicht vor, sich kaufen zu lassen. Wenn Devere mit seiner Bettelei fertig war, würde er ihn totschlagen und ihn in seiner schicken Wolkenkratzer-Stadtwohnung liegen lassen, umgeben von all den schönen Dingen, die man mit Geld kaufen konnte.
Konstantin hatte die Geduld eines Heiligen, wenn es darum ging, ein Versprechen einzulösen.
Er ließ seinen Blick über den Fluss schweifen und besah sich London bei Nacht. Die Stadt war ein eigenartiges Ungeheuer, das niemals schlief. Er konnte nicht verstehen, was daran so reizvoll sein sollte. Sie war schmutzig, sie stank und sie war völlig überbevölkert, genau wie jede andere Großstadt der Welt auch. Er betrachtete die Dächer, vom Tower of London bis zum charakteristischen Dom der St. Paul’s Cathedral, über das London Eye, und, gerade so noch erkennbar, den Big Ben. In den Lichtern der Nacht sah London fast außerweltlich aus, wie eine Märchenstadt. Aber auch wenn die scharfkantigen Umrisse der Gebäude durch das weiche Dämmerlicht geglättet wurden, änderte das nichts an der Tatsache, dass die interessanteste Geschichte hier gerade von einem Mord handelte.
Er blickte wieder auf seine Uhr.
Es war zwei.
Bald, versprach er sich selbst. Die unruhige Beleuchtung durch den Fernseher erlosch.
Die nächsten beiden Stunden vergingen langsam. Konstantin machte das nichts aus. Es gab Momente, auf die es sich zu warten lohnte, und das hier war einer davon. Der Mond schien voll und hell am Himmel.
Er stand auf und ging den Balkon entlang, auf der Suche nach einem behelfsmäßigen Werkzeug, mit dem er die Tür nötigenfalls aufbrechen konnte. Bei drei von zehn Wohnungseinbrüchen in der Stadt wurden keine Schlösser beschädigt, weil die Bewohner zu dumm waren, um ihre eigenen Fenster und Türen abzuschließen. Konstantin hatte allerdings den Eindruck, dass Devere eher ein sicherheitsbewusster Mensch war. Bei reichen Männern war dieses Phänomen häufig anzutreffen, bei manchen von ihnen reichte es hin bis zu paranoiden Wahnvorstellungen. Doch wie es um Devere in dieser Hinsicht auch bestellt war, er war offensichtlich kein Hobbygärtner. Nirgends gab es Werkzeuge, mit dem man hätte Erde lockern oder Zwiebeln setzen können.
Langsam ging Konstantin zurück zur Balkontür. Die einfachen Schlösser, mit denen die Balkontüren ausgeliefert wurden, waren meistens nicht gut gehärtet und spröde; das hieß, dass sie unter Druck schnell nachgaben. Es spielte keine Rolle, wie stabil die Glasscheiben waren, wenn das Schloss schon unter der Hebelkraft zerbrach, die man mit einem einfachen Besenstiel aufbringen konnte. Glücklicherweise wussten das nur die wenigstens der Menschen, die gerade tief und fest unter den sanften Lichtern der Märchenstadt schliefen. Wenn sie es gewusst hätten,
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