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Silber

Titel: Silber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Savile
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verweigerten, wurden sie geschlagen. Wenn sie nicht auf die Knie fielen, bettelten und gestanden, wurden sie geschlagen. Wenn sie nicht allein waren, wurden ihre Frauen, Freundinnen oder Geliebten geschlagen, bis sie um Gnade flehten. Um vier Uhr morgens konnte die Angst auch die stärksten Männer brechen. Das war die russische Vorgehensweise.
    Er wusste das, weil er selbst eine albtraumhafte Zeit lang einer dieser Vier-Uhr-Männer gewesen war.
    Und nun wurde diese Form der Angst gegen ganz gewöhnliche Menschen in ihren ganz gewöhnlichen Existenzen eingesetzt. Konstantin fühlte sich auf merkwürdige Art in dieser gewalttätigen Gesellschaft zu Hause, viel mehr, als es ihm in einer Welt der Dichter und Denker möglich gewesen wäre. Aber er war auch mit Gewalt zu einem Leben der Gewalt erzogen worden, deshalb war das nicht verwunderlich.
    Konstantin war einer der wenigen Menschen auf der Straße, die sich auf ein bestimmtes Ziel zubewegten. Er war wachsam, seine Augen huschten von einem Passanten zum nächsten und suchten in ihren Gesichtern nach Anzeichen der Schuld oder Mitschuld. Natürlich würde es niemals so einfach sein. Er sah nur den Schock und den Unglauben, die sich immer wieder und wieder in den Gesichtern wiederholten. Er wusste, was sie dachten: Wie konnte so etwas hier passieren? Wie konnte so etwas uns passieren?
    Das Dossier, das Lethe ihm über den Mann gegeben hatte, der sich vor nicht ganz vierundzwanzig Stunden auf dem Potsdamer Platz bei lebendigem Leibe verbrannt hatte, war entmutigend dünn. Sein Name war Grey Metzger, 34 Jahre alt, deutscher Vater, englische Mutter, geboren in White Cliff, Whitby. Er war vor sechs Monaten mit einem Universitätsstipendium nach Berlin gezogen, als Teilnehmer eines Austauschprogramms mit der Universität von Nottingham, wo er Dozent für die mittelalterliche Geschichte Europas war. Das war auch schon das Ende seiner Geschichte. Keine Ehefrau, keine Kinder, keine Schulden, keine plötzlichen großen Geldeingänge auf seinem Konto – tatsächlich wies sein Kontostand nur die unspektakuläre Summe von 3.027 Euro aus. Es gab weder ein Sparkonto, noch Aktienanteile oder andere Geldanlagen, die auf den Namen Grey Metzger ausgestellt waren.
    Wenn man der Datenspur glauben konnte, lebte er von Monat zu Monat und konnte nur wenig Geld zur Seite legen. Er bezahlte seine Rechnungen pünktlich. Seit er in Berlin war, hatte er insgesamt elf Bücher aus der Bibliothek ausgeliehen, und keiner der Titel war, in Anbetracht seines Fachgebiets, eine große Überraschung. Unter der Nummer seines Reisepasses waren keine auffälligen Ein- oder Ausreisen an den Grenzübergängen registriert. Grey war ein durch und durch normaler Mensch gewesen.
    Das alles fand Konstantin äußerst interessant.
    Denn auf dieser Welt gab es keine normalen Menschen.
    Metzger unterhielt eine kleine Wohnung in Charlottenburg, einem der wohlhabenderen Bezirke in der alten Innenstadt. Sie lag nahe bei der Akademie der Künste, so glich sich die höhere Miete mit dem kürzeren Arbeitsweg aus. Die Wohnung hätte als ein kleiner Luxus gelten können, aber sie passte gut zu dem Bild des Mannes, der jeden Cent umdrehte und mit Bedacht ausgab. Charlottenburg war selbst zu Zeiten der Mauer immer eine Oase der Ruhe gewesen.
    Er bog in die Schloßstraße ein. Er konnte sich gut vorstellen, dass die Bewohner sich hinter den Fenstern ihrer schönen Häuser normalerweise in Sicherheit wähnten. Heute hatte man ihnen die sichere Distanz genommen. Auch das gehörte zum Wesen der neuen Angst: Sie suchte die Menschen in ihren eigenen vier Wänden heim.
    Ein Zeitungsverkäufer an der Straßenecke verkündete allen, die ihm Gehör schenkten, Neuigkeiten von der Tragödie und hielt ihnen die druckfrische Ausgabe seines Blattes unter die Nase. Konstantin wechselte die Straßenseite, um dem Mann aus dem Weg zu gehen. Er zählte die anderen Menschen auf der Straße: Es waren siebenundzwanzig. Es war eine der geschäftigsten Straßen der Stadt zu einer der geschäftigsten Uhrzeiten, und nur siebenundzwanzig Leute gingen tatsächlich ihren Geschäften nach. Es gab einen rot lackierten Kiosk, in dem heiße Würstchen verkauft wurden. Ein einzelner Mann saß davor, er hatte den Mantelkragen gegen die Kälte hochgeschlagen und aß eine Bratwurst mit Röstzwiebeln, Senf und Ketchup. Der Mann war der einzige, der der Straße einen Hauch von Normalität gab.
    Wie hatte es soweit kommen können? Wie hatte diese Art der Angst so

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