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Silber

Titel: Silber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Savile
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mit dem Gesicht auf dem Boden auf. Während er um seinen letzten Atemzug kämpfte, war sein einziger Gedanke, dass ihr dummer Streit Sarah das Leben gerettet hatte.
    Und dafür war er sehr dankbar.

8
DIE BRAUT DES KUMMERS
    Konstantin Khavin ging durch eine Stadt, die in tiefer Trauer lag.
    Die ersten Berichte über die grauenhaften Ereignisse in der U-Bahn hatten die Oberfläche erreicht. Die Menschen standen fassungslos in den Straßen und wussten nicht, ob sie einfach weglaufen oder ihrer alltäglichen Routine nachgehen sollten. Fünf U-Bahn-Haltestellen waren von Anschlägen betroffen, und, wenn er den Gerüchten glauben konnte, zusätzlich zwei S-Bahn-Stationen und der zentrale Omnibusbahnhof der Stadt. In mindestens sechs Linienbussen waren mit Sarin gefüllte, perforierte Plastikbeutel hinterlassen worden, die das Nervengas über die ganze Stadt verteilten. Es war eine hässliche Art zu sterben.
    Ein Radio, das in einem offenen Fenster stand, spielte „My Funny Valentine“. Die langsame Melodie schwebte durch die enge Straße und verwandelte sie in eine Szenerie, die aus einem Wim-Wenders-Film hätte stammen können. An der Straßenecke saß ein Mädchen, das aus Papierresten kleine Origami-Kraniche faltete. Sie stellte sie in einer Reihe auf dem Rinnstein auf, es waren Hunderte von ihnen. Sie blickte zu ihm auf, mit großen, kummervollen Augen, und sagte: „Damit der liebe Gott sie nicht vergisst.“ Das kleine Mädchen, das um Hunderte oder vielleicht Tausende unbekannte Menschen trauerte, war ein ebenso surrealer wie trauriger Anblick. Es zeigte die wahren Auswirkungen einer Tragödie von so gewaltigen Ausmaßen. Es war ein kollektiver Schmerz, unter dem alle Menschen litten. Die Trauer war öffentlich, laut und herzzerreißend.
    Der „andere Schuh“ war genau zur morgendlichen Rush-Hour gefallen, als mehrere Hunderttausend Menschen aus der ganzen Stadt auf dem Weg zur Arbeit waren, und jede Ebene des öffentlichen Nahverkehrs war in Mitleidenschaft gezogen worden.
    Alles daran machte Konstantin zornig – er verspürte das dringende Bedürfnis, auf irgendjemanden oder irgendetwas einzuschlagen –, doch sein Zorn war völlig hilflos. Es gab nichts, was er für die Menschen hier hätte tun können, und es war ein bitterer Trost, dass sich ihre Vermutung bestätigt hatte, dass Berlin eines der primären Ziele sein würde. Es war schon lange her, dass er Mütterchen Russland den Rücken zugekehrt hatte, tatsächlich sogar schon so lange, dass er sich kaum noch an ihre Straßen und ihre verwirrende Architektur erinnern konnte. Heute erinnerte er sich nur noch an seine Verbrechen.
    Die Welt um ihn herum hatte sich seit damals verändert. Früher war der Terror noch einer gewissen Ethik gefolgt, die die gewöhnlichen Menschen mit ihren gewöhnlichen Leben beschützt hatte. Sie waren durch eine Art stillschweigende Übereinkunft zwischen den Unterdrückern und den Unterdrückten unbehelligt geblieben. Damals wurden nur legitime Ziele angegriffen: Militärische Stützpunkte, Operationsbasen der Geheimdienste und Waffengeschäfte; bei den regionaleren Terror-Kampagnen, wie der in Nordirland, waren die Hauptziele der IRA Polizisten, führende Politiker, Journalisten und dergleichen. Es waren keine Kinder auf dem Weg in die Schule. Es waren keine Mütter, die Kinderwägen schoben und darauf Lebensmittel balancierten. Es waren nicht die jungen Senkrechtstarter, die von einer langen und erfolgreichen Zukunft träumten. Es waren auch nicht die Baristas, die Verkäufer, die Busfahrer und die Straßenkehrer, die den Alltag für alle anderen Menschen so viel angenehmer gestalteten. Der Terror hatte ein neues Gesicht angenommen.
    Er hatte nun deutlich erkennbare russische Züge.
    Bei diesem Gedanken erschauderte Konstantin.
    Er hatte Mitleid mit den Menschen hier, obwohl er sie nicht kannte.
    Der Alte hatte recht: Es ging um ein möglichst großes Schauspiel. Es war eine russische Furcht, die sich tief in die Psyche der Menschen grub. Sie verletzte sie dort, wo sie sich am sichersten fühlten: in ihren alltäglichen Leben. Es war wie mit den Inhaftierungstrupps des KGBs, die um vier Uhr morgens Türen eingeschlagen hatten – das sorgte für Verwirrung und Panik. Sie stürmten mit viel Lärm die Wohnung, riefen, schrien und drohten mit Gewalt, während die Verdächtigten, nackt und verwundbar, im Chaos ihres gewaltsamen Eindringens aufwachten. Wenn sie sich wehrten, wurden sie geschlagen. Wenn sie sich der Festnahme

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