Silberband 001 - Die Dritte Macht
ein dumpfes Geräusch – und Stille.
Ras zitterte vor Furcht. Abergläubischer Schrecken ergriff von ihm Besitz. Jetzt hörte er
wieder das schleichende Tappen. Es war lauter geworden.
Sein Herz schien für einen Augenblick stillzustehen, als er zwei funkelnde Lichter dicht vor
seinem Gesicht sah. Es mußte eine Raubkatze sein, die seine Witterung aufgenommen hatte.
Ras wußte, daß er verloren war. Seine einzige Waffe lag tief unter ihm auf dem Waldboden.
Vielleicht sogar im Sumpf. Das Messer war klein und nicht viel wert, damit konnte er niemals ein
derart gefährliches Raubtier abwehren. Mit zitternden Händen zog er es aus dem Gürtel.
Die beiden Augen leuchteten keine drei Meter von ihm in der Dunkelheit. Fast vermeinte Ras,
den Atem seines Gegners zu riechen. Er blieb sitzen, stemmte sich mit dem Rücken gegen den
ausgehöhlten Stamm und wartete.
Von links kam ein Fauchen. Ras fuhr herum. Die Augen vor ihm verschwanden plötzlich, als die
Katze ihren Nebenbuhler ansprang. Ras konnte nichts sehen, aber er ahnte, daß sich wenige Meter
vor ihm in der völligen Dunkelheit ein wilder Kampf abspielte. Die beiden Tiere stritten sich um
die Beute – um ihn.
Der Sieger würde nicht zögern, ihn anzugreifen. Immerhin blieben ihm noch einige Minuten, sich
vorzubereiten. Viel konnte das nicht helfen, das wußte er selbst. Seine Hand faßte das Messer
fester.
Das Fauchen der kämpfenden Bestien entfernte sich ein wenig, aber es wurde lauter und wilder.
Krallen hakten sich in Holz und verursachten ein Geräusch, das Ras bis ins Mark drang. Dann trat
Stille ein. Aber nur für Sekunden. Ras hörte am Brechen der Zweige und am dumpfen Aufschlagen,
daß eins der Tiere den Halt verloren hatte und in die Tiefe gestürzt war. Der Kampf war
beendet.
Gleich darauf tauchten die funkelnden Augen etwas weiter entfernt wieder auf. Sie bewegten
sich auf ihn zu.
Verdammt – warum hatte er sich auch auf dieses Abenteuer einlassen müssen! Warum war er
überhaupt auf den Gedanken gekommen, nach Moskau auszuwandern? Warum studieren? Er hätte in El
Obeid bleiben sollen, bei den Eltern, bei der Schwester.
Lieber Gott, die Schwester! Sie war der einzige Mensch, der von seiner Verwandtschaft noch
lebte. Er hatte sie immer gern gehabt. Das Haus …
Er vergaß das sich nähernde Raubtier. Wenn er schon sterben mußte, dann wenigstens mit dem
Gedanken an die geliebte Heimat, an die Schwester.
Er sah sie vor sich, in dem kleinen Zimmer, mit dem Ausblick zur Straße. Sie saß am Tisch und
zerstampfte mit einem Mörser das Getreide zu feinem Mehl.
Er hätte alles dafür gegeben, jetzt in dieser Sekunde bei ihr sein zu können, in dem alten
Haus, in Sicherheit. Er sehnte sich mit übermenschlicher Intensität nach dieser sicheren Umgebung
und konnte an nichts anderes mehr denken. Selbst die Raubkatze hatte er vergessen …
Die Schwester saß am Tisch, aber sie zerstampfte kein Getreide. Sie blätterte in alten
Briefen, die in einem Kasten vor ihr standen. Nun sah sie auf, erblickte Ras, der neben der Tür
stand. Aber es war ein fremder Ras, den sie nicht kannte. Ein Mann in zerfetzter Kleidung, in der
Hand ein stoßbereites Messer …
»Ras? Was ist mit dir? Das Messer …«
Der Student stand wie erstarrt. Mit aufgerissenen Augen sah er seine Schwester an. Langsam
ließ er die Hand mit dem Messer sinken. Es fiel klirrend zu Boden.
»Bruder, was hast du?« Sie sah ihn an wie eine Erscheinung.
Ras keuchte schwer. Er sah sich langsam um, ohne zu begreifen, wie er hierher gekommen war.
Noch vor einer Sekunde hatte er mehr als zweitausend Kilometer entfernt mitten im Urwald auf
einem Baum gesessen, den sicheren Tod vor Augen.
Und nun …
El Obeid. Das Elternhaus! Die Schwester!
»Sarah – du bist es? Bin ich wirklich hier?«
»Natürlich bist du hier – aber wie siehst du aus? Bist du geflohen? Mein Gott, du
könntest aus dem Gefängnis ausgebrochen sein.«
»Vielleicht bin ich das«, sagte er zitternd. »Aus einem geistigen Gefängnis. Aus dem
Gefängnis, das unser Gehirn errichtet hat. Aber das ist doch unmöglich! Warum ausgerechnet
ich?«
»Was meinst du? Ich verstehe nicht …«
»Sarah, ich verstehe es selbst nicht. Ich weiß nicht, wie ich hierhergekommen bin. Ich war mit
einer Expedition unterwegs – die Expedition!« Er entsann sich seiner Aufgabe. Sie hatten ihn
geschickt, um Rettung zu holen. Sie waren zweitausend Kilometer entfernt. Doch das war kein
Problem heute,
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