Silberband 088 - Der Zeitlose
Sturms, mit klammen Fingern den Türrahmen betastend, wusste Pollard auf einmal, dass die Leute nachlässig geworden waren, weil ihnen das Interesse fehlte.
Bluff wusste, wie er die Tür dazu bringen konnte, sich dennoch zu öffnen. Aber diesmal, mit tauben Fingern, hatte er mehr Mühe als sonst.
Endlich schwang die Platte knarrend zur Seite. Der Raum dahinter war finster und wirkte nur im ersten Augenblick wärmer als die Außenwelt. Bluff ertastete sich einen Weg. Er stieß gegen Stühle und Tische. Das hier war ein Lehrsaal. Wenn es überhaupt Kleidungsstücke gab, dann in einem der Aufenthaltsräume, in denen die Pioniere die Pausen verbrachten.
Ein schmaler Gang und noch zwei Türen … Ein dunkler Raum, in dem es nach abgestandener Luft und getrocknetem Schweiß roch … Ein Gestell, auf dem die klammen Finger achtlos abgelegte Kleidung ertasteten … Bluff wühlte in dem Kleiderhaufen, bis er einen Thermoumhang fand. Er streifte ihn sich über. Gefühllos suchten die Fingerspitzen nach dem kleinen Schalter, der die Thermik betätigte.
Endlich umfing ihn die Wärme. Er stand minutenlang ganz still und fühlte, wie sein erstarrter Körper allmählich auftaute. Die Wärme brachte die Müdigkeit zurück. Bluff überlegte, ob er hier bleiben und ein paar Stunden schlafen solle. Vielleicht hörte der Sturm unterdessen auf.
Schließlich entschied er dagegen. Noch immer empfand er Sehnsucht nach dem Heim. Er wollte nicht mehr allein sein. Er konnte sich nicht erklären, warum der Tunnel unter der Straße und diese Baracke so völlig leer waren, denn im Pionierzentrum hatte es zu jeder Tages- und Nachtzeit Unterricht gegeben. Vielleicht war der Sturm daran schuld. Der Unterricht war abgesagt worden. Im Heim aber mussten Leute sein.
Außerdem war er hungrig, und nur im Heim würde er etwas zu essen bekommen. Er zog den Umhang dichter und verließ die Baracke. Es erschien ihm, als hätte der Blizzard ein wenig nachgelassen. Bevor er die Richtung zum Tunnel einschlug, blickte er noch einmal an der Stirnwand der Baracke hinauf.
Die Uhr zeigte unverändert 23.17.
Der Schnee hatte seine Spuren schon zugedeckt. Aber Bluff Pollard hatte jetzt den Sturm im Rücken und kam leichter voran als zuvor.
Am Eingang zum Tunnel stutzte er. Zur Rechten hatte er eine schattenhafte Bewegung wahrgenommen, und als er aufsah, blickte er in ein Paar glühende Augen. Sein Erwachen drunten im Tunnel fiel ihm wieder ein. Er sah sich um und entdeckte noch mehr glühende Augenpaare. Dunkle, schlanke Schatten bewegten sich in der Finsternis. Sie hatten ihn eingekreist. Nur der Weg in den Tunnel war noch offen.
Bluff wandte sich seitwärts. Er hatte Angst … Aber noch mehr Angst hatte er vor dem Tunnel, in den ihn die Meute schattenhafter Geschöpfe treiben wollte. Er nahm zwei Hände voll Schnee auf, ballte sie und schleuderte sie in Richtung eines der glühenden Augenpaare. Dazu stieß er einen gellenden Schrei aus.
Das Tier kam in Bewegung. Es gab ein halb ängstliches, halb überraschtes Bellen von sich und schnürte durch die Dunkelheit davon. Bluff rückte weiter vor. Wieder und wieder griff er in den Schnee, formte hastig ein Wurfgeschoss und schleuderte es mit lautem Geschrei in die Front der glühenden Augen.
Endlich kam Bewegung in die Schattengeschöpfe. Kläffend sprangen sie auf und kämpften sich durch den Schnee davon. Besonders tapfer schienen sie nicht zu sein. Bluff stand da und lachte – lachte zum ersten Mal in seinem Leben aus vollem Hals.
Nur Hunde, dachte er. Sie waren hungrig. Niemand kümmerte sich um sie. Aber sie fürchteten den Menschen. Zuerst hatte er an Wölfe geglaubt, die es zwar nicht in der Gegend von Nome, aber droben in den Bergen noch in großer Zahl gab. Jetzt, da er wusste, dass es sich nur um Hunde handelte, war er beruhigt.
Sorglos betrat er den Tunnel. Er war fast einen halben Kilometer lang und mündete jenseits der Straße in parkähnliches Gelände, in dem das Heim lag. Bluff schritt munter aus und freute sich, dass er ein paar hundert Meter weit nicht gegen den Schnee zu kämpfen brauchte. Er vermisste das stetige, summende Geräusch des Verkehrs, das von der Straße herab sonst ins Innere des Tunnels drang. Aber wenn alles dunkel war und die Uhren nicht mehr funktionierten, brauchte er sich nicht darüber zu wundern, dass der Verkehr zum Erliegen gekommen war.
Er merkte an Spuren von Schnee, die der Wind hereingetrieben hatte, dass er sich dem Ende des Tunnels näherte. Auch hier
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