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Silberfischchen

Titel: Silberfischchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inger-Maria Mahlke
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zurück, musste den Türrahmen loslassen, wenn sie die Hand wegschlagen
     wollte. Er hob die Hand ein wenig höher, ihre Lippen waren weich und glatt. Warm. Er berührte ihre Oberlippe, ließ die Fingerkuppe
     hinabgleiten auf die Unterlippe, schob sie leicht nach unten, so dass er ihre Zähne sehen konnte. Weiter nach unten, bis die
     Lippe umklappte, das hellrote Fleisch der Innenseite sichtbar wurde, sein Finger feucht von ihrem Speichel. Sie schlug die
     Hand weg, schlug mit Kraft, sie tat ihm weh, ging einen Schritt zurück, wollte nach ihm stoßen, doch er war schneller. Drängte
     sich an ihr vorbei zur Kellertreppe.
    »Hab ich wenigstens meine Ruhe«, rief sie hinter ihm her.
     
    Er ging auf die Toilette, in Ruhe, öffnete das Fenster weit nach dem Spülen. Der geblümte Kulturbeutel lag noch immer im Regal,
     er nahm ihn mit ins Wohnzimmer.
    In der Mitte des Raumes blieb er stehen. Ihre Wäsche |80| lag auf dem Sofa, die Bettdecke zusammengelegt auf der Lehne, obenauf ihr Kopfkissen, als gehöre das Sofa ihr. Unschlüssig
     betrachtete er den grünen Sessel, schob schließlich die Decke beiseite, sie fiel auf den Boden, den Kulturbeutel stellte er
     daneben. Sie hatte den Bildband nicht weggeräumt, er lag noch immer auf dem Couchtisch, er könnte ihn ins Regal tun, er ließ
     es bleiben. Aus dem Bad hörte er das Wasser in den Spülkasten nachlaufen. Er könnte das Radio anstellen, mit geschlossenen
     Augen Musik hören, er rührte sich nicht. Die Stille wurde eindrücklicher, er fühlte ihre Abwesenheit, fühlte, dass er allein
     war, endlich allein war, er sollte erleichtert sein. Dennoch stand er auf, ging zum Sideboard und schaltete das Radio an.
     Es lief »Umwelt und Natur«. »Es werden nicht nur ungewöhnlich viele sein, sie werden auch überdurchschnittlich groß«, sagte
     eine Männerstimme, er mochte die Sendung nicht. »Die Körpermaße eines Maikäfers entscheiden sich im Engerlingstadium«, fuhr
     die Stimme fort. Kalt war es im Keller, er sah sie auf der Bank sitzen, in die sich drehende Trommel starren. »Ein Chitinpanzer
     kann nicht wachsen.« Es klingelte, klingelte an der Wohnungstür, nicht unten. »Er kann sich auch nicht häuten, ein Käfer ist
     schließlich kein Reptil.« Vielleicht musste sie auf die Toilette, im Hinausgehen schaltete er das Radio aus.
    »Wo trocknet die Wäsche?«, sie war außer Atem, war die Stufen hochgelaufen.
    »Ist die Maschine schon durch?«, er sah auf seine Uhr.
    »Wo trocknet die Wäsche?«, wiederholte sie.
    »Auf den Leinen. Unten«, er war erstaunt.
    |81| Sie schob ihn zur Seite, so plötzlich, dass er vergaß, sich zu wehren, ihr den Weg zu versperren, den Türrahmen mit seinen
     Armen dichtzumachen. Drängte sich an ihm vorbei in den Flur. »Ich bewache doch nicht die Wäsche, bis sie getrocknet ist«,
     sie schüttelte den Kopf.
     
    Er wartete, bis sie in der Küche verschwunden war, legte die Zeitung in Griffweite auf den Couchtisch und setzte sich in den
     Sessel. Im Radio endlich Klassik, er meinte Mozart zu erkennen, lehnte sich zurück, der Himmel gleichmäßig hellgrau. Sie öffnete
     die Küchenschränke, er hörte die Scharniere, stellte Gegenstände auf die Arbeitsplatte, die Geräusche leise und gedämpft,
     sie räumte den Vorratsschrank aus. Er schloss die Augen, es war Bach und nicht Mozart, der Ansager kündigte das nächste Konzert
     an.
    Sein Mund war trocken. Er saß. Lag nicht. Er war aufgewacht, und es war dunkel, und er lag nicht in seinem Bett. Er war im
     Wohnzimmer, er saß in dem grünen Sessel, metallisches Klappern drang gedämpft aus der Küche.
    Das Besteck lag auf dem Küchentisch, je ein Haufen Messer, Gabeln, Suppenlöffel, Teelöffel. Jana Potulski stand an der Spüle,
     Schaum auf ihren Händen, und trocknete die Plastikeinlage der Besteckschublade ab.
    Sie drehte sich halb zu ihm um, »wann wollen wir essen?« Sie legte die Einlage in die Schublade zurück, trocknete die Hände
     mit dem Geschirrtuch ab. Er zuckte mit den Achseln, gähnte ohne Hand vor dem Mund.
    |82| Erstaunt betrachtete sie die Gabeln in ihrer Hand. »Das ist Silber«, sagte sie, legte die Gabeln in ihr Fach und zog eine
     hervor, schwärzlich verfärbt, die Zinken ein wenig verbogen. Das detailliert ausgearbeitete Dekor werde durch Oxydation noch
     besser hervorgehoben, stand in dem Prospekt, den seine Frau ihm vorgelesen hatte. Frau Potulski musterte die Rückseite des
     Griffs, suchte nach einer Marke, einer Aufschrift.
    »WMF«, sagte er,

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