Silberflügel: Roman (German Edition)
Chance. Die Tauben waren für den Augenblick völlig blind.
„Los!“, zischte er Marina zu.
Langsam hob er vom Boden ab, wirbelte heftig mit den Flügeln. Mit dem Klang-Sehen tastete er den Turm ab. Ein silbernes Gewebe von Balken, Tauben, die in blinder Panik herumflatterten, ihre Flügel, die geisterhafte Echos in sein inneres Bild eingruben. Er lokalisierte das nächste Fenster, ein einladendes schwarzes Rechteck. Er nahm Kurs darauf.
Die Tauben flatterten verwirrt durcheinander und rammten sich gegenseitig. Schatten kurvte um einen Balken herum, dann um einen zweiten. Seine Flügel ruckten heftig von einer Seite zur anderen. Von hinten traf ihn eine Taube an der Seite des Kopfes, ein betäubender Schlag, er stürzte auf einen Holzbalken.
„Ich habe eine erwischt!“, rief die Taube.
„Schatten!“, hörte er Marina neben sich rufen.
„Hau ab!“, rief er. „Ich bin okay.“
Aber er fühlte, wie der schwere Flügel des Vogels gewichtig auf ihm lastete und ihn niederzuhalten versuchte. Instinktiv biss er in die Federn und traf auf Fleisch. Die Taube schrie auf und der Flügel klappte hoch.
Schatten sprang von dem Balken herunter und fiel fast einen Meter, bevor ihn seine Flügel wieder emportrugen. Wo war Marina? In Panik warf er einen Klangblick um sich herum und erkannte ihren schlanken Umriss, der sich auf das Fenster direkt über ihm zubewegte. Sie flitzte hindurch und war draußen. Eine Taube warf sich vor, um seinen Flug abzublocken, aber gerade noch rechzeitig wich Schatten seitlich aus und glitt durch das Fenster zurück in die Nacht.
– 10 –
Der Hüter des Turms
Sechs Tauben stürzten aus den Fenstern hinter ihnen her.
Schatten warf einen Blick über die Schulter zurück und sah, wie sich die Vögel am Himmel auffächerten, um sie zu umzingeln.
„Können wir sie abhängen?“, japste er.
„Glaub ich nicht“, keuchte Marina.
„Sie müssen halb blind sein hier draußen!“
„Hell genug.“
Sie hatte Recht. Es war keine Nacht wie im Wald. Von der Stadt drang Licht herauf. Sie stoben über ihr dahin, wedelten wild um Türme herum, fegten über Dächer, stürzten sich tief in Schluchten hinab. Seine Angst war mit Freude gepaart: Er war zurück in der Nacht, seinem ureigenen Element. Kein Vogel konnte ihn fangen. Er war klein, schwarz wie der Himmel, schnell wie eine Sternschnuppe. Trotzdem folgten ihnen die Tauben verbissen.
„Mir nach!“, rief Marina.
Er hetzte hinter ihr her hinab in die Stadt, vorbei an Mauern aus Licht, wimmernden Maschinen und Fahrzeugen der Menschen auf glitzernden Straßen.
„Wohin fliegen wir?“
„Irgendwohin ins Dunkle.“
Sie tauchte in eine schmale Gasse zwischen zwei niedrigen Gebäuden hinab und er stürzte hinter ihr her. Dabei drang er mit seinem Klang-Sehen in die tiefen Schatten ein.
„Hier!“, rief sie ihm zu.
Sie flogen um eine Ecke, warfen sich gegen eine rußige Backsteinmauer und krallten sich daran fest. Zusätzlich breitete Schatten seine schwarzen Flügel über Marina aus, sodass beide in der Dunkelheit praktisch unsichtbar waren. Sie hielten den Atem an, als die Tauben oberhalb der Gasse vorbeihetzten, dann kreisten.
„Wo sind sie hin?“, fragte einer der Soldaten.
„Dorthin, glaub ich.“
„Schau dort nach. Wir suchen hier.“
Zwei Soldaten blieben zurück, ließen sich am Rande des Daches nieder und horchten mit hin und her gewandten Köpfen. Schatten beobachtete sie mit seinem Echoblick.
„Es ist zu dunkel“, sagte der erste Soldat. „Ich kann nichts erkennen.“
„Wir haben sie verloren“, sagte der zweite.
„Lass uns zurückfliegen.“
„Der Hauptmann wird nicht erfreut sein.“
„Aber was wird, wenn diese großen Fledermäuse zurückkommen …“
„Mach dir nichts aus dem, was Saunders gesagt hat. Er lügt. Solche Fledermäuse gibt es gar nicht.“
„Wie haben sie dann zwei von uns umgebracht? Du hast die Verwundung an Saunders’ Schulter gesehen.“
„Vielleicht haben sie Waffen gehabt. Woher soll ich das wissen?“
„Er hat gesagt, sie haben die Leichen in ihren Klauen weggetragen.“
Darauf wusste die andere Taube keine Antwort.
„Lass gut sein. Wir kehren um. Ruf die anderen. In ein paar Stunden ist es hell. Wenn es dämmert, können wir einen anderen Trupp losschicken.“
Sie erhoben sich vom Dach und verschwanden. Als Schatten sie nicht mehr hören konnte, schnappte er gierig nach Luft. Er hatte das Gefühl, dass er stundenlang nicht mehr geatmet hatte.
Marina schob seine
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