Silberlicht
Semester gar keinen Englischkurs besuchte. Normalerweise wurde auch der kleinste Ausbruch aus der täglichen Routine registriert, jeder Atemzug gezählt, jeder Schritt abgewägt. Ich suchte noch nach einer Erklärung für meine nassen Haare, als er wieder verschwand.
Ich hatte so eilig nach dem Shakespeare gegriffen, dass meine Schultasche umgekippt war. Als ich sie wieder aufrichtete, fiel James’ Anstecker heraus und rollte unter die Kommode. Auf Knien rutschte ich auf dem Boden herum und tastete nach ihm. Als ich ihn mit meiner Faust umschloss, stieß ich an den Boden der untersten Schublade. Ein blechernes Klappern erregte meine Neugier. Ich zog die Schublade auf, fand jedoch nur einige Tücher, Strümpfe und einen Strickhut. Als ich an der Lade rüttelte, hörte ich das Geräusch erneut. Mitch erschien vor meinem inneren Auge, wie er mit konzentriert zusammengezogenen Brauen Billys Stiefel abtastete, wie eine hungrige Schlange auf der Suche nach Eiern.
Ich kippte den Inhalt der Schublade auf mein Bett. Wie auch die Fächer im Schrank war ihr Boden mit gelb-weißem Gingham-Papier ausgelegt. Ich klopfte mit dem Finger dagegen, es klang hohl. Als ich genauer hinsah, erkannte ich ein kleines Stück cremefarbenen Stoff, der an einer Seite herausschaute. Ich zog daran, bis sich der Boden löste. In dem Fach darunter fand ich einen ausgebeulten lavendelfarbenen Kissenbezug und einen Umschlag. Mein Herz machte einen Satz.
»Es ist in Ordnung, wenn ich mir das ansehe«, versuchte ich mich zu beruhigen. »Vielleicht hilft es mir ja weiter.« Behutsam wickelte ich den Kissenbezug auseinander. Drei Gegenstände lagen darin – eine Polaroidkamera, eine blaue Filmpackung, auf der »schwarzweiß« stand, sowie ein kleines Plastiktäschchen mit einigen Dollarscheinen und ein paar Münzen. Ich verstaute alles wieder in dem Bezug, aus Angst, jemand könne plötzlich hereinkommen. Als Nächstes öffnete ich den Umschlag, aus dem eine Handvoll Fotos herausglitt. Insgesamt waren es etwa zwölf Stück. Ich war vollkommen fasziniert; keines glich dem anderen. Manche waren mit handgeschriebenen Worten in schwarzer Tinte untertitelt. Auf einem Bild sah ich eine blasse Hand, wahrscheinlich Jennys, die sich nach einem Blatt an einem Zweig reckte. Darunter stand »Adams Streben«. Ein anderes zeigte Jenny in einem dünnen weißen Nachthemd, wie sie wie eine Balletttänzerin in die Höhe sprang und sich dabei im Spiegel ihres Kleiderschranks betrachtete, in der Luft gefroren. Da, wo ihr Gesicht hätte sein sollen, sah man den Blitz der Kamera, wie einen kleinen, blendenden Stern. Auf dem nächsten Foto war ein leicht verschwommener Taubenschwarm zu sehen, der sich in die Lüfte erhob. Ein weiteres zeigte die Pfotenabdrücke einer Katze auf der Windschutzscheibe eines Autos.
Darunter lagen einige größere Fotos, ebenfalls in Schwarzweiß, die ich mir eins nach dem anderen besah. Jenny, nackt, zu einer Kugel zusammengerollt, auf dem Boden vor dem Schrankspiegel, die Kamera auf dem Teppich neben ihr. Die Schwärze, die ihren Körper umgab, ließ ihre helle Haut leuchten. Ein anderes Foto zeigte ihre Füße. Einer lehnte in einem anmutigen Bogen an der Wand, der andere stand wartend am Boden, wie ein Volkstänzer, der die Decke erklimmen will. Und dann wieder Jenny – zumindest nahm ich an, dass sie es war – mit einem weißen Betttuch über dem Kopf, wie sie auf dem Bett saß, neben sich einen Koffer. Ich konnte nicht erkennen, wo sie die Kamera plaziert hatte. An der rechten oberen Ecke war ein Stück weißes Klebeband befestigt, auf dem »Der Geist wartet« geschrieben stand.
Das letzte Bild verblüffte mich am meisten – Jennys Gesicht, das dem Betrachter aus dem Schrankspiegel entgegensah. Ihr Kinn lag auf den Händen, und sie blickte vollkommen ruhig in die Kamera. Es war ein verstörendes Foto. Ihre Seele spiegelte sich in ihren Augen. So hatte ich Jenny noch nie gesehen. Zum ersten Mal stellte ich mir die Frage, wo sie sich wohl gerade befand. Eigentlich traurig, dass ich nicht früher darüber nachgedacht hatte.
Das Klicken der Haustür ernüchterte mich. Ich schob die Fotos in den Umschlag und legte sie unter den Schubladenboden. Als Cathy, natürlich ohne anzuklopfen, die Tür öffnete, war ich gerade dabei, einen Schal zu falten.
»Was tust du da?«, fragte sie mit einem Blick auf den Kleiderstapel neben mir.
»Ich räume nur ein bisschen auf«, antwortete ich.
»Magst du Brad Smith nicht?«
Ich war zu
Weitere Kostenlose Bücher