Silbernes Band (German Edition)
vergangen.
Dein Vater ist kein Mensch
Von den blauen Flecken war nichts mehr zu sehen, also konnte Heiðar am Samstagmorgen zum Schwimmbad im Laugardal fahren. Er duschte kurz, stieg in seine schwarze Badehose und ging ohne zu frösteln nach draussen, wo ein heftiger, eiskalter Wind wehte. Stiess sich elegant vom Rand des Schwimmbeckens ab, tauchte wie ein Pfeil ins Wasser und pflügte mit vermeintlich kräftigen Crawl-Bewegungen durch die Bahn. In Wahrheit musste er kaum Kraft aufwenden, kam dennoch flott voran und hatte schon bald den ersten Kilometer geschafft. Er grübelte über Rúna nach, kam zum Schluss, dass er umsonst mit seinem Vater gekämpft und verloren hatte. Das Beste war wohl, sie so schnell wie möglich zu vergessen.
Er brauchte zwei weitere Kilometer, bis er sich etwas besser fühlte. Es war nicht das erste Mal, dass er sich mit einer traurigen Tatsache abfinden musste. Er würde wohl auch über Rúna hinwegkommen. Was blieb ihm anderes übrig?
Kristín hatte sich gewundert, warum Heiðar sie am Freitag nicht besucht hatte. Dabei war sie bereit gewesen, nochmals über Fionn zu sprechen. Falls Fionn und Heiðar sich kennengelernt hatten, konnte es gut sein, dass ihr Sohn plötzlich nicht mehr soviel Zeit aufwenden wollte, sie zu besuchen. Quälte ihn womöglich das schlechte Gewissen, weil er ihr das verschwieg? Unsinn! War sie etwa eifersüchtig? Bestimmt kam er heute Nachmittag vorbei, das tat er für gewöhnlich samstags, und stets brachte er eine kleine Köstlichkeit zum Kaffee mit. Sie wollte erstmal eine Weile schlafen, die vielen Medikamente machten sie entsetzlich müde. Später würde eine freundliche Pflegerin das Mittagessen servieren, das sie vielleicht sogar aufass. Heiðar kam meist am frühen Nachmittag und blieb dann etwa eine Stunde, manchmal auch länger. Seine Besuche waren eine willkommene Abwechslung in der tristen Krankenhaus-Routine. Sie lag schon so lange hier, eine Chemotherapie folgte auf die nächste, bisher ohne Erfolg. Kristín war es so leid! Fionns Angebot wollte sie trotzdem nicht annehmen, das war einfach undenkbar. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, als sie darüber nachdachte, seine Vampir-Gefährtin zu werden. Nun dachte sie darüber nach, ob Fionn ihr einen anderen Gefallen tun könnte.
Heiðar liess seine trübe Stimmung im Schwimmbad zurück. Auf dem Heimweg vom Laugardalslaug kaufte er in einer Bäckerei ein paar Kleinur (ein leckeres Schmalzgebäck), bevor er nach Hause fuhr und sich dort wohl oder übel der Hausarbeit widmete. Blitzschnell flitzte er mit dem Staubsauger durch die kleine Wohnung, wischte sämtliche Böden, putzte das Bad auf Hochglanz und staubte sogar ab. Zum Glück hatte er geschlossene Bücherschränke, was für ein Horror, wenn er alle seine Bücher einzeln abstauben müsste! Jetzt sah es wieder tip-topp aus, und er war direkt ein bisschen stolz, soviel geschafft zu haben. Fionn würde staunen! Nach diesem Putzwahn blieb genügend Zeit, um einen Stapel Aufsätze zum Thema „Finanzkrise in Island“ zu korrigieren, ehe er sich auf den Weg ins Krankenhaus machte.
Kristín schlief, als er leise ins Zimmer trat. Sie sah friedlich aus, trug ein schönes Lächeln auf den Lippen. Vermutlich träumte sie. Vielleicht von Fionn? Hatten die beiden nicht eine wunderschöne Liebesgeschichte erlebt? Zumindest solange Fionn sich nicht verstellen musste.
Ihr Pulsschlag erhöhte sich, sie bewegte sich leicht im Schlaf und schlug die Augen auf. „Heiðar, mein Liebling!“ Sie streckte die magere Hand nach ihm aus, er küsste zärtlich ihre Stirn und setzte sich zu ihr.
„Hier, für dich.“ Er schüttelte die Tüte mit dem Gebäck und gab die Kleinur auf einen Teller, der auf dem Nachttisch lag. „Lieb von dir, danke!“ Sie schenkte ihm ein schwaches Lächeln und nahm allen Mut zusammen: „Darf ich dich etwas fragen?“ Sein Blick verriet Wachsamkeit. „Klar, schiess los.“ Kristín straffte die Schultern: „War Fionn bei dir? Hast du ihn kennengelernt?“ Pause. Die Luft zwischen ihnen vibrierte vor Spannung.
Heiðar holte Atem und fuhr sich nervös mit der Hand durch die Locken. „Ja, wir haben uns im Hotel Borg getroffen.“ Er runzelte leicht die Stirn und fuhr dann fort: „Ich wollte es dir schon lange sagen, aber ich war wohl zu feige... Wir haben uns schon mehrmals gesehen und uns dabei lange unterhalten. Ich bin sehr froh, dass ich ihn kennenlernen durfte. Er konnte mir viele Antworten
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