Silbernes Band (German Edition)
erwog sogar sich krank zu melden, damit er sich um sie kümmern konnte. Was sie aber vermutlich nicht in Anspruch nehmen würde, so gut kannten sie sich schliesslich nicht. Vielleicht konnte er unbemerkt in ihrer Nähe bleiben, um sie vor Fionn zu beschützen, falls der vorhatte, sie nochmals zu entführen. Wie eine solche Bodyguard-Aktion ausging, wollte er sich lieber nicht zu genau vorstellen. Seine blauen Flecke taten immer noch grausam weh.
Den Plan, Blau zu machen, liess er schliesslich fallen und fuhr um zehn vor Acht mit seinem blauen Tiguan zur Schule. Seine Schüler mussten heute zünftig unter seiner miesen Laune leiden, seine Beliebtheit sank rapide. Aber er war schliesslich auch nur ein halber Mensch und hatte durchaus einmal Anspruch auf einen schlechten Tag.
Nach Schulschluss beeilte er sich, um so schnell wie möglich zur Buchhandlung zu gelangen. Er stellte den Wagen ins Parkverbot und hetzte mit langen Schritten zum Laden. Rúna war nicht da! Ein Gefühl, als hätte ihm jemand das Knie in den Magen gerammt. Er stürmte ins Geschäft, schnupperte angestrengt und lauschte nach ihrem Herzschlag. Vielleicht war sie gerade irgendwo in den hinteren Räumlichkeiten? Nein, sie war definitiv nicht hier! Sein Herz pochte vor Aufregung, er konnte es kaum ertragen, nicht zu wissen, wo sie war, wie es ihr ging! Er musste sie so schnell wie möglich finden!
An der Kasse bediente eine dunkelhaarige rundliche Frau mittleren Alters, gemäss ihrem Namensschild hiess sie Sólveig. Die Frau, die auf seinen Anrufbeantworter gesprochen hatte. „Guten Tag, ist Rúna heute nicht da?“ Sólveig blickte verwundert hoch. Sie hatte gar nicht bemerkt, wie der junge Mann an die Theke getreten war. „Wo ist Rúna?“, schob er ungeduldig nach. „Oh, die hat ihren freien Tag“, kam endlich die Antwort. „Kann ich ihr etwas ausrichten? Sie kommt morgen wieder“, bot Sólveig freundlich an. „Nein, ich brauche ihre Adresse.“ Er hatte doch keine Zeit! „Tut mir leid, das geht nicht.“ Sie liess keinen Zweifel daran, dass sie es ernst meinte. Heiðar zögerte kurz, - ihm blieb keine andere Wahl – suchte Sólveigs Blick und sah ihr tief in die Augen: „Bitte gib mir Rúnas Adresse.“ Seine Stimme klang jetzt wie Samt, und Sólveig fühlte sich plötzlich ganz sonderbar. Natürlich würde sie diesem freundlichen jungen Mann Rúnas Adresse geben! Zum Glück wusste sie die auswendig, sie war erst kürzlich bei ihr zu Besuch gewesen. Sólveig nahm sich einen Zettel und schrieb alles genau auf. „Bitte schön!“ Mit einem strahlenden Lächeln reichte sie ihm den Zettel. „Herzlichen Dank.“ Heiðar wandte den Blick ab und verliess so rasch als möglich die Buchhandlung.
Skúlagata. Er sprang in den Wagen, ohne die Parkbusse unterm Scheibenwischer zu beachten, brauste ein Stück den Skólavörðustígur hoch, dann über Njálsgata und Snorrabraut bis Hlemmur, wo die gelben Linienbusse verkehrten. Gleich dahinter, an der Hverfisgata lag das Polizeihauptgebäude, also nahm er wohl oder übel den Fuss vom Gas. Noch einmal rechts abbiegen, und er hatte die Skúlagata erreicht. Mit scharfem Auge prüfte er im Vorbeifahren die Hausnummern der tristen schmutzig-grauen Mehrfamilienhäuser, durfte endlich runterschalten und fand sogar einen Parkplatz direkt vor Rúnas Zuhause. Sie wohnte in der dritten Etage, und zwar nicht allein, da stand ein weiterer Name auf dem Klingelschild. Die dunkelbraune abgewetzte Haustür war verschlossen. Er überlegte, ob er einfach klingeln sollte. Aber was dann? Wie sollte er ihr erklären, was er hier wollte? Er versuchte vergeblich ihren Herzschlag durch den Verkehrslärm herauszufiltern, riechen konnte er sie auch nicht.
Nachdem er zehn Minuten lang unruhig auf und ab getigert war, hörte er im Innern des Hauses ein Tür zuschlagen, Herzschläge, Schritte und Stimmen von zwei Personen. Ihre Schritte, ihr Herzschlag und ihre Stimme! Rasch überquerte er die Strasse und wandte sich etwas ab, damit sein Gesicht nicht zu erkennen war, zog sein Mobiltelefon hervor und tippte zum Schein eine ellenlange SMS.
„Bei 12 Tónar werden wir sicher fündig. Wir sollten erst dort vorbeigehen.“ Sie klang ziemlich fröhlich, anscheinend ging es ihr gut. Die abgewetzte Tür öffnete sich, und Rúna trat in Begleitung eines jungen Mannes auf den Gehsteig. Er war gross und schlaksig, hatte glattes, blondes Haar und ein sympathisches Grinsen. „Wenn wir uns beeilen, bleibt noch Zeit
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