Silbernes Band (German Edition)
kenne bisher bloss den Klappentext. So wie du vorhin von meinem Duft geschwärmt hast, passt die Geschichte doch ganz gut zum heutigen Abend.“
Er verzog zweifelnd das Gesicht und nahm das Buch entgegen. Ahnte sie etwas? Hatte er schon zu viel preisgegeben? Anders als Máni, der Protagonist des Romans, durfte er sich nicht auf Rúnas Duft fixieren. Ihm ging es nicht allein um Flieder, Wollgras und Frühlingssonne. Er wollte ihre Persönlichkeit erfassen, in Verbindung mit dem wunderschönen Herzklang, ihrer Wärme, dem grün-goldenen Strahlen ihrer Augen und dem rosigen Mund, der sich eben wieder zu einem Lächeln verzog. Natürlich stand über allem der drängende Wunsch, ihr Blut zu trinken. Um die kostbaren Dinge, die diesen Wunsch auslösten, nicht zu verlieren, durfte er ihm nicht nachgeben – ganz einfach.
Er legte bequem einen Fuss auf den Couchtisch, klappte das Buch auf und begann zu lesen. Rúna liess sich vom samtigen Timbre der sanften Stimme einhüllen. Sie lauschte geborgen, rückte näher an ihn heran und lehnte sich seitlich an seine Schulter, die Beine angezogen, ihre Arme um die Knie geschlungen. Heiðar erzählte die Geschichte aus dem Gedächtnis, er musste aufpassen, dass er nicht vergass, die Seiten umzublättern. Zwischen zwei Sätzen wandte er sein Gesicht nach ihrem Hinterkopf, suchte den Wirbel aus Wollgras und küsste ihn zärtlich.
Er schaffte mehr als hundert Seiten, dann begann Rúna immer häufiger zu blinzeln. „Er war diesem Duft verfallen. Ohne ihn gab es keinen Grund, zu existieren. Er musste sie haben.“ Heiðar brach ab und klappte das Buch zu. „Ich fahr dich besser nach Hause, ehe du einschläfst.“ Sie reckte sich wohlig an seiner Schulter und wandte sich mit glänzenden Augen nach ihm um. „Ich wette, du hast extra an einer spannenden Stelle aufgehört. Damit ich wiederkomme.“ – „Würdest du das? Obwohl das Buch stapelweise bei euch im Laden rumliegt?“ – „Ja – unter einer Bedingung: Versprich mir, dass du diesem Máni nicht nacheiferst. Ich bin mehr als bloss ein Duft...“
Er hob die Hand und berührte ihre Wange. „Du bist eine tolle Frau mit einem anziehenden Wesen, das ich gerne ergründen möchte. Und du riechst gut – darauf muss ich bestehen.“ Sie knuffte ihn kichernd in den Oberschenkel und sprang erstaunlich munter vom Sofa. „Okay, dann bring mich jetzt nach Hause. Bevor ich deine Wohnung weiter verpeste.“ Er stemmte sich kopfschüttelnd aus dem weichen Polster. „Ich werde auf keinen Fall ein Fenster öffnen, damit ich dich nachher noch riechen kann, wenn du weg bist.“ – „Komm schon, Máni!“ Er folgte ihr in den Flur und sah wehmütig dabei zu, wie sie in ihre Stiefel schlüpfte.
Beim Abschied vor ihrer Haustür nahm er sie noch einmal mit allen Sinnen in sich auf, um die Zeit bis zum Wiedersehen überstehen zu können. Er küsste sie scheu auf den Mund, spürte, dass sie mehr erwartete als eine flüchtige Berührung seiner Lippen, aber mehr lag noch nicht drin. „Schlaf gut.“ In der Tür drehte sie sich nach ihm um und gab ihm ein Lächeln mit auf den Weg. Ihr Duft schwebte wie eine zarte Wolke vorm Eingang, der harmonische Herzschlag war sogar noch zu hören, als sie bereits ihre Wohnung betreten hatte. Er blieb eine Weile dort stehen, wo sie ihn zurückgelassen hatte, und horchte verzückt, fuhr erst nach Hause, als sie eingeschlafen war.
Ein schwieriger Kunde
Ihr Herz hopste vor Freude, als er am nächsten Tag um Punkt halb Fünf die Buchhandlung betrat. Ungeduldig verfolgte sie jeden seiner Schritte.
„Da bin ich. Verkaufst du mir heute ein Buch?“ Rúna liess kurz den Blick durch den Laden schweifen. Heiðar war der einzige Kunde, also flitzte sie hinter der Kassentheke hervor und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. Er fand es toll, wie sich dabei ganz kurz ihre Locken ineinanderverhakten. „Wir sprachen von Óskar Helgi Baldursson.” Ganz pflichtbewusste Buchhändlerin ging sie ihm zur Abteilung einheimischer Autoren voran und zog zielsicher einen Roman mit hellgrünem Einband aus einem der Regale. Er registrierte, wie sorgsam sie es in den Händen hielt, als präsentiere sie ihm eine Flasche vorzüglichen Rotwein. Er bemühte sich, die Rolle des Kunden überzeugend zu spielen: “Worum geht es in dieser Geschichte?” – “Es ist eine komplizierte, aber witzige Beziehungsgeschichte.“ – „Warum kompliziert?“ – „Die beiden Hauptpersonen, Þorður und Svanhvít lieben sich zwar,
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