Silbernes Mondlicht, das dich streichelt
auf.
Aidan wanderte wie in einem Traum durch
Zeiten und Bruchstücke seiner Erinnerungen. Er litt nicht, und doch schien er
das fleischgewordene Leben selbst zu sein.
Er sah sich vor langer Zeit im
Hinterzimmer des Totengräbers liegen, untot, aber zweifellos auch nicht
lebendig. Er fühlte wieder das Entsetzen und die Hilflosigkeit und verfluchte
Lisette aus dem tiefsten Zentrum seiner Seele.
Aidan erwartete nicht, noch weiter
zurückzureisen: er hatte immer gehört, daß so etwas unmöglich war, mit Ausnahme
vielleicht für die erfahrensten und furchtlosesten Vampire wie Valerian. Doch
zu seiner Überraschung hörte er ein pfeifendes Geräusch, schrill und laut,
fühlte sich durch schimmerndes Mondlicht gleiten und Myriaden glitzernder
Sterne.
Sein Anhalten war ein Zusammenstoß
und keine Ankunft, und es dauerte einige Sekunden, bis er sein Gleichgewicht
zurückgewann. Und da erkannte er, daß er sich in einem Loch befand, finster und
kalt, das von den Schreien und Bewegungen unsichtbarer Wesen widerhallte.
Die Hölle — oder zumindest das
Fegefeuer. Aidan unterdrückte einen Schrei, seine Verzweiflung war
überwältigend, unerträglich, und — was das Schlimmste war — er war mit
Sicherheit in alle Ewigkeit verdammt.
In seiner Verzweiflung tat er, was
kein Vampir jemals gewagt hätte und schrie aus vollem Herzen: 0 Herrgott —
erbarme dich meiner! Ich bin auf Wunsch eines anderen verdammt worden — es war
nicht meine eigene Wahl!
Schweigen. Stille. Selbst das
Stöhnen der verlorenen Seelen in der Finsternis war verstummt.
Aidan wartete.
Valerian blieb in der Höhle, solange er
konnte, und hielt Wache, aber bald merkte er, daß sein geistiges Ich vom Körper
getrennt nicht lange überleben würde. Er kehrte also zurück an jenen einsamen,
verfallenen Ort, um zu warten. Und dort, fast gegen seinen eigenen Willen,
begann er zu heilen.
Neely störte Maeve bei ihrem Weben nicht,
nahm statt dessen ein Bad, zog eins ihrer neuen Nachthemden an und sank ins
Bett. Sie schlief tief und traumlos und erwachte vom Klingeln eines Telefons.
Es verstummte kurz darauf, und
jemand klopfte an ihrer Tür. »Für Sie, Miss«, rief Mrs. F. ihr zu. »Ihre
Freundin Miss Browning, glaube ich.«
Neely richtete sich auf und nahm den
Hörer von dem Apparat, der auf dem Nachttisch stand. »Ja?« murmelte sie und
fühlte sich benebelt. Doch hinter diesem Nebel lauerte eine schreckliche
Sehnsucht nach Aidan und die schleichende Furcht, ihm könnte etwas zugestoßen
sein.
»Hi, Neely«, rief Wendy heiter. »Ich
hoffe, du hast den Schneesturm genossen. Wir haben ihn dir zu Ehren
aufgeführt.«
Neely lachte, obwohl es ein wenig
rauh klang und in ihrer Kehle schmerzte. »Tausend Dank«, erwiderte sie. »Wie
wäre es das nächste Mal mit einem Orkan?«
»Einverstanden«, stimmte Wendy
lachend zu. »Hör zu, wir führen heute eine Art dramatisches Potpourri in der
Akademie auf — Szenen aus verschiedenen klassischen Stücken —, und ich würde
mich freuen, wenn du kämst. Ich lege eine herrlich bösartige Lady Macbeth auf die
Bühne.«
»Gibt es eine andere?«
Wendys Lächeln war durch die Leitung
zu spüren. »Schlauberger«, sagte sie. »Wirst du also kommen? Wir könnten
später zusammen essen.«
Neely wäre lieber in ihrem Zimmer
geblieben, um auf Aidan zu warten, aber sie zwang sich, die Einladung
anzunehmen. Sie notierte sich die Adresse, stand auf und zog Hosen und einen
warmen Pullover an.
Sie wußte, sie würde verrückt
werden, wenn sie in diesem Zimmer blieb und in den Nebel draußen hinausstarrte.
So ging sie in die Küche, wo Mrs. F. bereits ihr Frühstück zusammenstellte,
und setzte sich zu ihr an den Tisch.
Sie plauderten eine Weile, aber
Aidans Name wurde nicht erwähnt und Maeves auch nicht.
Nachdem sie ihr Geschirr abgeräumt
hatte, ging Neely in die Gemäldegalerie im Erdgeschoß, weil sie sich von den
Bildern dort wie magisch angezogen fühlte. Mrs. F., die anscheinend
Gesellschaft suchte, beschloß, Neely zu begleiten, um Staub zu wischen.
Einige der Bilder waren Porträts —
Maeves, Aidans, Valerians —, aber die meisten stellten Landschaften dar. Rein
intuitiv wußte Neely, daß die sanften grünen Hügel, die steilen Klippen und
das blaugraue Meer einen Teil von Irland darstellten. Sämtliche Gemälde, mit
einer Ausnahme, mußten vom selben Künstler angefertigt worden sein.
Sie zog sich einen Stuhl heran und
kletterte darauf, um sich eine Signatur anzusehen. »Tremayne«, murmelte sie
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