Silbernes Mondlicht, das dich streichelt
vertieft,
daß sie die Zeit darüber vergaß. Sie las Seite um Seite, fasziniert von dem
Bericht des jungen Iren über seine Begegnung mit Lisette, der geheimnisvollen
Frau, die eines Abends ihre Kutsche neben ihm angehalten und seine Seele
gefangengenommen hatte. Und obwohl dieser andere, frühere Aidan — er konnte
unmöglich der Mann sein, den sie in den Armen gehalten hatte, der Mann, den sie
liebte — ein schamloser Wüstling gewesen war, dessen Interessen sich auf Sex,
Musik und gutes Bier beschränkten, empfand Neely Verzweiflung, ja sogar
Eifersucht, als sie seine Zeilen las. Es gefiel ihr nicht, daß eine Frau in
dieser Geschichte vorkam.
Als sie zu der Stelle gelangte, wo
Lisette sich auf den jungen Aidan stürzte und ihre Fänge tief in seine Kehle
grub, um ihm sein Blut auszusaugen, spürte Neely, wie sie erblaßte und ihr
Gesicht so kalt wurde wie Fensterglas in einer Winternacht. Obwohl alles nur
Erfindung war, eine brillante und ziemlich unglaubwürdige Geschichte, erschien
sie ihr real, so unglaublich real, daß sie sich in die Zeit und an die Orte
versetzt fühlte, in der die Geschichte spielte.
Und von Zeile zu Zeile wurde alles
noch viel phantastischer. Der junge Aidan war im Bett einer flohverseuchten
Pension des achtzehnten Jahrhunderts gestorben, und doch war er nicht
gestorben. Der Wirt, sein Sohn und ein Priester hatten ihn für tot erklärt, und
er hatte sich verzweifelt, jedoch ohne Erfolg bemüht, ihnen mitzuteilen, daß er
noch lebte. Ohne sich bewußt zu sein, daß sich noch eine Seele in dem leblosen
Körper verbarg, hatten die Männer die Leiche einem Bestattungsunternehmer
übergeben. Und an diesem schrecklichen Ort war Aidan einsam zurückgeblieben und
vergessen worden.
Neely kamen die Tränen, als sie las,
wie Lisette zurückkehrte und Aidan in ein Ungeheuer verwandelte, in einen
Vampir, indem sie seine Halsschlagader von neuem öffnete, aber diesmal, um ihm
Blut zu spenden, anstatt es ihm zu nehmen.
Obwohl dies alles Neely faszinierte
und auf morbide Weise ihre Neugier weckte, war sie nicht fähig, weiterzulesen,
noch nicht. Sie war zutiefst erschüttert, als hätte sie die Ereignisse selbst
miterlebt, jede grauenhafte Einzelheit davon. Sie empfand einen zwingenden,
bleibenden Haß auf diese herzlose Lisette, in Verbindung mit einem unheiligen
Zorn darüber, daß diese Frau Aidans Bett geteilt, ihm Lust verschafft und Lust
von ihm erfahren hatte.
Eine lange Zeit saß Neely nur still
da, benommen von der Intensität und Verschiedenheit ihrer Gefühle. Obwohl sie
ins Feuer starrte, sah sie nur die alptraumhaften Bilder, die Aidan so
sorgfältig in seinem Tagebuch beschrieben hatte. Wie konnte jemand, selbst wenn
er ein Vampir war, einem anderen Wesen so etwas Entsetzliches antun und es, wie
Lisette Aidan, zu einem ewigen Alptraum verdammen?
»Neely?«
Sie zuckte zusammen und schlug
schuldbewußt das Buch zu.
Aidan stand nur wenige Schritte von
ihr entfernt — sie hatte ihn nicht hereinkommen gehört — und trug ihren Koffer
in der Hand, der in der Nacht zuvor im Motel zurückgeblieben war.
Eine solch überwältigende Zuneigung
zu ihm erfaßte sie, als sie ihn bloß ansah, daß ihr der Atem stockte und sie
nicht fähig war, etwas zu sagen.
»Ich dachte, du hättest vielleicht
gern deine eigenen Kleider«, bemerkte er mit unschuldiger Miene, beinahe scheu.
Sein Blick glitt zu dem dicken Buch auf ihrem Schoß, und sie sah Erleichterung
und Resignation in seinem Blick aufflackern. »Du hast also meine Tagebücher
gefunden.«
Neely sah, daß seine Haut, die
vorhin noch leichenblaß gewesen war, einen rosigen Schimmer angenommen hatte.
Ein verrückter Verdacht kam ihr; sie verdrängte ihn jedoch und richtete ihren
Blick auf den Koffer in seiner Hand. »Woher hast du ihn? Ich dachte, wir hätten
ihn im Motel zurückgelassen?« »So war es auch. Ich habe ihn abgeholt.«
Neely schaute abrupt zu ihm auf.
»Das ist unmöglich! Es ist viel zu weit.«
Anstatt etwas zu erwidern, zog Aidan
nur eine Augenbraue hoch.
Neely sprang auf und nahm ihm den
Koffer aus der Hand. »Ich muß meinem Bruder sagen, daß alles in Ordnung ist«,
sagte sie rasch. »Wenn die Polizei das Motelzimmer untersucht und keine Spur
von mir findet, wird Ben in den Zeitungen davon erfahren und sich große Sorgen
machen. Er wird vielleicht sogar glauben, ich sei tot.«
Aidan verschränkte die Arme. »Wenn
du Ben anrufst, werden bald noch mehr Freunde des Senators hier erscheinen.
Was nicht tragisch wäre,
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