Silberstern Sternentänzers Sohn 02 - Gefährliche Traeume
schlug an die Fensterscheiben, als verlange er Einlass.
Niculina hatte auf dem Holztisch in der Küche eine große, mit Blumen bemalte Tonschüssel platziert - voll mit Tomaten. Daneben standen Schälchen mit grob geschnittenen Kräutern, klein gehackten Zwiebeln und Knoblauch. Auf einem Holzteller lag Bratensülze, auf einer Platte gewürfelter Schafskäse. Dazwischen waren gelbe, rote und grüne Paprika drapiert.
Pelikan saß auf seinem Platz am Kopfende des Tisches. Er nahm das Brot, das Niculina selbst gebacken hatte. Es war noch ganz frisch und warm, weil sie es erst spät nachmittags aus dem Backofen hinter dem Haus geholt hatte. Wortlos schnitt Pelikan mit einem großen Messer dicke Scheiben von dem Laib ab.
Hätte Annit inzwischen nicht über Pelikans Vergangenheit Bescheid gewusst, hätte sie ihn wieder als griesgrämigen, wortkargen Typen eingestuft. Doch nun nicht mehr!
„Wir haben das Dach fertig gekriegt, Vater und ich“, erzählte Mannito, als Annit sich wie üblich auf den Platz zwischen ihm und Anama setzte.
Mannitos Vater lächelte seinen Sohn stolz an. „Ja, wir haben gut zusammengearbeitet“, lobte er und nahm sich ein Stück von der Bratensülze. „Es ist eben immer gut, wenn man zusammenhält.“
Niculina bedachte Mannito mit einem liebevollen Blick. „Ja, wir sind froh, dass du wieder da bist.“ Dann wandte sie sich an Annit: „Und wir freuen uns natürlich auch, dass du mitgekommen bist, Annit. Ich hoffe, du fühlst dich bei uns wohl.“
Annit nickte. Ja, das tue ich wirklich. Vor allem seit ich Pelikans Verhalten besser einschätzen kann, fühle ich mich richtig wohl hier, fügte sie in Gedanken hinzu. Aber Mannitos Familie ist eben nicht meine eigene Familie.
Annit spürte plötzlich einen dicken Kloß in ihrem Hals. Mit wenig Appetit quälte sie sich durch die Mahlzeit. Aber sie hatte einfach keinen rechten Hunger mehr. Wieder mal war ihr klar geworden, dass ihrem Leben - das bis vor einem Jahr noch vollkommen schien - etwas Wesentliches fehlte.
Verstohlen betrachtete sie Mannito und seinen Vater, Niculina und Anama. Sie alle wirken zufrieden, dachte Annit. Sie sind halt eine richtige Familie und gehören zusammen. Trotz der Probleme, die sie manchmal haben. Abrupt stand Annit auf. „Ich bin müde“, entschuldigte sie sich und ging in das Zimmer, das sie sich mit Anama teilte.
Als Anama eine halbe Stunde später kam, schaute sie Annit mit großen Augen an. „Warum bist du denn so schnell vom Tisch aufgestanden?“, wollte sie wissen.
Annit schluckte. Sie wollte Anama nicht erzählen, was ihr im Kopf herumgegangen war. Das würde die Kleine noch nicht verstehen. „Ach, ich war nur ein bisschen müde“, wich sie aus und wechselte schnell das Thema. „Soll ich dir wieder ein Märchen erzählen?“
„Au ja, bitte!“, jubelte Anama. „Wieder eins von dem dämlichen Dichter!“
„Dänisch, Anama. Dem dänischen Dichter. Dänemark ist ein Land ganz weit im Norden. Also, pass auf... da war einmal ein kleines Mädchen, ungefähr so alt wie du. Das Mädchen hatte ganz arme Eltern. Es hatte immer Hunger und fast nichts anzuziehen. Es war ein herrlicher Früh lingstag. Die Sonne schien, die Krokusse blühten. Und an diesem Tag nun ...“
Annit hielt kurz inne in ihrer Erzählung und schaute zu Anama hinüber. Da lag die Kleine - fest in ihre Decke gekuschelt - in ihrem Bett und schlief. Ruck, zuck waren ihr die Augen zugefallen.
Annit setzte sich zu Anama ans Bett und betrachtete das schlafende Mädchen eine Weile. Dann flocht sie Anamas Haar wie jeden Abend - so wie Niculina es ihr gezeigt hatte. Als sie fertig war, hauchte sie der kleinen Schlafenden noch einen Kuss auf die Stirn und löschte das Licht.
Annit wälzte sich an diesem Abend lange in ihrem Bett hin und her, bevor sie endlich in einen unruhigen Schlaf fiel. Auf einmal fand sie sich in einem Traum wieder.
Sie ritt auf Silberstern an einem Waldrand entlang. Der Wald war voller Bären und umhüllt von einem riesigen hell leuchtenden Feuerkreis. Wieder einmal hob Silberstern vom Boden ab, und sie segelten in Höhe der Baumwipfel dahin. Die Bären schauten nach oben zu den Luftreitern und winkten ihnen mit ihren Pranken zu. Plötzlich tauchte aus dem Nichts eine riesige überdimensionale Hand auf, die sich langsam senkte - bis knapp über die Köpfe der Bären. Die Bären brüllten laut. Sie hatten Angst. Schreckliche Angst.
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