Silenus: Thriller (German Edition)
Folgt mir, ich werde euch zum Haus geleiten.« Er winkte, und die Truppe folgte ihm über das Feld. Nur mussten sie nun erkennen, dass sich die Dinge verändert hatten: Es war Nacht, nicht Morgen, und sie befanden sich nicht mehr an einer Straßenkreuzung, sondern auf einer einsamen, gepflasterten Straße, die aus den Tiefen eines dunklen Waldes herausführte und sich über eine eisige Weide nach der anderen schlängelte. Riesige, überirdisch erscheinende schwarze Steine tüpfelten die Felder um sie herum. Einige waren so groß, dass ihr Schatten auf die sternenbeschienene Straße fiel. Silenus achtete kaum darauf, aber George und die anderen schauten sich unterwegs unentwegt um.
»Ich erinnere mich nicht, in diesem Wald gewesen zu sein«, sagte Colette, als sie sich umblickte. »Waren da vor einer Weile nicht ein paar Häuser?«
Stanley zog seine Tafel hervor und schrieb: DIES SIND IHRE LÄNDEREIEN. WANKELMÜTIG WIE IHRE BEWOHNER.
»Warst du schon einmal hier?«, fragte Colette.
Stanley schüttelte den Kopf und schrieb: IST DAS ERSTE MAL.
»Nun ja, wie dem auch sei, es ist höchst verwirrend«, sagte sie. »Und es ist so kalt hier. Ich habe noch nie so gefroren …«
George war ganz ihrer Meinung. Wo waren sie? Etwas, das der Herold gesagt hatte, beschäftigte ihn unterschwellig. Und dann erinnerte er sich an den Namen des Hofes: Quelle des Kummers. War das nicht der Name, den er auf Silenus’ seltsamer Karte gesehen hatte? Aber hatte dieser Ort nicht in Kentucky gelegen? George war nie in Kentucky gewesen, kam aber zu dem Schluss, dass er auch niemals dorthin wollte, sollte Kentucky irgendeine Ähnlichkeit mit ihrer derzeitigen Umgebung aufweisen.
Sie betraten den finsteren Wald. Am Waldrand griff der Herold in einen Wassergraben neben der Straße und brachte eine kleine, bronzene Laterne zum Vorschein. Er strich mit einem langen Finger über das Glas, und die Kerze im Inneren leuchtete unverzüglich auf. Dann wedelte er mit demselben Finger, und die Truppe folgte ihm.
Die Kerzenflamme zeichnete sonderbare Muster auf die dunklen Baumstämme. Bisweilen schien ein Gewirr aus Zweigen das Licht einzufangen und komplizierte Hieroglyphen hervorzubringen.
»Vermute ich richtig«, fragte Silenus, »dass ihre Ladyschaft dem Tage eher abgeneigt ist?«
»Die Nacht ist die beste Zeit zum Feiern«, sagte der Herold. »Und welchem Zweck sollen Haus und Hof dienen, wenn nicht dem, Feste zu feiern?«
Die Straße führte nun einen steilen Hang hinauf, und als sie den Wald hinter sich ließen, ging ein Aufkeuchen durch die Truppe. Ein riesiges Haus thronte auf der Hügelkuppe, doch es war mit keinem Haus vergleichbar, das sie je gesehen hatten. Ganz sicher war es nicht, was George erwartet hatte. Er hatte angenommen, Elfen würden in Schlössern leben oder in Schluchten oder Wäldern, aber hier auf dem Hügel stand ein gewaltiges Gebäude im Queen-Anne-Stil mit etlichen Giebeln, Rondellen, Spandrillen und Türmchen, unzähligen geriffelten Säulen und einer langen Vorderveranda mit filigranen Zierornamenten im Zuckerbäckerstil. Mit all den Fenstern, aus denen ein warmer Lichtschein fiel, wirkte es auf George im Halbdunkel wie eine Villa, die man in gehobenen Kreisen vermuten sollte. Das einzig Sonderbare waren die großen Scheiterhaufen, die rundherum auf dem Hügel aufgeschichtet worden waren und dem Anwesen eine grausame, mittelalterliche Aura verliehen.
»Das ist neu«, murmelte Silenus, als sie den Hang hinauftrotteten.
Der Herold führte sie in eine enorme Eingangshalle mit einer gewölbten Decke, glatten Säulen und zwei Rundbogentüren mit schweren Bronzegriffen. Kaum traten sie ein, spielten Georges scharfe Sinne verrückt: Die Luft war sonderbar, beinahe unerträglich still, und obwohl seine Ohren ihm sagten, dass nichts zu hören war, glaubte ein Teil von ihm beständig, irgendwo aus der Nähe Flüstern und das Flattern gefiederter Schwingen zu vernehmen.
Der Herold drückte die Tür auf, und sie folgten ihm einen langen, mit Teppich ausgelegten Gang hinunter. Die einzige andere Tür befand sich am anderen Ende des Ganges. An den Wänden hingen unzählige Bilder. Die ersten paar schienen George keinen Sinn zu ergeben. Bei den meisten der verstörenden Szenen, die dort abgebildet waren, hatte der Maler offenbar eine Dimension oder eine Farbe verwendet, die seine Augen ihm nicht übersetzen konnte und die ihm Kopfschmerzen bereitete. Später folgte eine Reihe Gemälde, die, sonderbar genug, schlicht schwarz
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