Silenus: Thriller (German Edition)
doch es klang nicht unangenehm. Es hörte sich fast so an wie ein Glockenschlag, aber schwach und atonal. Er lauschte, während das Geräusch anschwoll und wieder leiser wurde und kletterte den Weg weiter hinunter auf der Suche nach seinem Ursprung.
Im Mittelpunkt der Mulde sah der Himmel grau aus, und die Luft schien feucht und kalt. Der schwarze Granit, der auf der Außenseite aus den Grasbüscheln hervorgelugt hatte, war hier kahl und unbedeckt, das lehmige Fleisch entfernt, um die Gebeine zu offenbaren. Doch obgleich sich dieser Ort fremd und beängstigend hätte anfühlen sollen, tat er es nicht: Alles war ruhig und friedvoll, so, als könnte das chaotische Kommen und Gehen der Außenwelt die Haut dieses Ortes niemals durchdringen. Lilien wuchsen in dem feuchten Kies am Boden der Mulde, und an einigen Stellen schien ein blaufransiges Moos beinahe zu glühen. Dieser Ort fühlte sich auf gewisse Weise immerwährend an.
George vernahm erneut das leise Klagen. Ihm war, als würde der Himmel mit ihm erbeben, und plötzlich erkannte er, dass sich das Klagen nun anhörte wie Gesang.
Zwischen zweien der schwarzen Steine klaffte eine Lücke, und George nahm an, dass die Laute durch sie zu ihm drangen. Er ging zu den Steinen und starrte in die große Ritze, wo der Gesang lauter zu sein schien, wie ein leises, rauchiges Summen.
Er blinzelte und sah, dass da etwas an der Seitenwand der Spalte war. Es sah beinahe aus wie ein Schnörkel aus Licht, der sich über das Gestein schlängelte, wie Licht, das von einem nahen Bach reflektiert wurde. George konnte kein Wasser entdecken und auch kein Licht, das hätte widergespiegelt werden können, und doch war da diese sanfte Glut, ein schwacher Blitz, der im Dunkeln ruckelte und tanzte.
Neugierig streckte George die Hand aus, um nach ihm zu greifen, und als sich seine Finger näherten, tanzte die Lichtader langsamer, beinahe, als könne sie seine Fingerspitzen fühlen und warte auf ihn.
Seine Fingerspitzen waren nur noch Millimeter entfernt, da spürte George plötzlich einen immensen Druck, der von jeder Seite auf ihn eindrang. Er nahm immer weiter zu, als läge er unter Tonnen von kaltem Eisen, das ihn niederdrückte und auf dem Erdboden zerquetschte. Hätte er seinen Mund öffnen können, hätte er geschrien, aber die Last war so ungeheuer, er konnte nicht einmal blinzeln. Und doch bewegten sich seine Finger immer noch auf das kleine Licht zu, wurden zu ihm hingezogen wie ein Stein, der über eine Klippe stürzte.
Und dann hörte er es: eine Stimme oder vielleicht auch viele Stimmen, sogar Millionen Stimmen, die einen tiefen, pulsierenden Basston brummten, und ein paar der Stimmen wechselten die Tonlage, kletterten in höhere Stimmlagen, während andere durch ihre Bandbreite wirbelten und Noten hervorbrachten, die seine Ohren kaum verstehen konnten. Und irgendwie wusste George, dass diese Stimmen nicht nur sangen, sondern dass sie mit jeder Sekunde, in der sie einen Ton hielten, an etwas zerrten und zogen, dass sie enorme Dinge herausforderten, die er nicht sehen konnte …
Dann berührten seine Finger ihr Ziel, und die Stimmen erhoben sich zu einem lauten Schrei. Der Schnörkel aus Licht flammte hell auf, und George hatte das Gefühl, der Himmel hätte sich aufgetan und etwas würde in ihn hineinstürzen, gerade so, als hätte er die Meere und die Sterne und die Schatten selbst verschlungen, und er war überzeugt, er müsse platzen. Die kleine Lichtader zog ihn näher und näher, bis er sich in ihr selbst zu befinden schien und die Welt sich danach in gesegnete Dunkelheit und Stille hüllte.
Als George wieder erwachte, lag er zusammengerollt in einem der toten Flussläufe und fühlte sich, als hätte er noch nie zuvor so gut geschlafen. Er erinnerte sich an einen seltsamen Traum von dem Hügel und den singenden Stimmen in der Mulde, aber als er sich den Schlaf aus den Augen gewischt hatte, sah er, dass seine Wurzelgesichter nicht alle in die gleiche Richtung schauten und der Hügel nichts weiter war als ein Haufen Erde. Als er ihn sich besah, stellte er fest, dass die Anhöhe durch und durch massiv war. In leicht entrückter Stimmung ging er davon und überlegte, was der Traum wohl zu bedeuten hatte. Dem Rest dieses sonderbaren Sommernachmittags schenkte er kaum Beachtung, und schließlich vergaß er ganz, was sich zugetragen hatte.
Als er mit seiner Geschichte fertig war, saßen Stanley und Silenus völlig still da. Die Asche von Silenus’ Zigarre war inzwischen
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