Silicon Jungle
2008.
Wenn von einer Watch List die Rede war, meinte man eigentlich, ohne die genauen Bezeichnungen zu kennen, entweder die vom NCTC betreute Datenbank TIDE , Terrorist Identities Datamart Environment , oder die Terrorliste des FBI . Für TIDE waren zwar wiederholt neuere Akronyme im Gespräch, doch die Hauptmerkmale dieser Liste blieben unverändert:
1. Man sollte nicht draufstehen.
2. Wenn man draufstand, wusste man es wahrscheinlich nicht.
3. Man konnte aus vielerlei Gründen drauf landen und nur aus ganz wenigen Gründen wieder von ihr entfernt werden.
4. Wenn man draufstand, kannte man wahrscheinlich andere, die draufstanden.
5. Wenn man nicht draufstand, kannte man wahrscheinlich andere, die draufstanden.
6. Es standen viele Leute drauf, und ihre Zahl würde sich verdoppelt haben, bevor ein neues Akronym gefunden war.
Diejenigen, die mit dieser Liste arbeiteten, beunruhigte vor allem Punkt 6. Die Liste wuchs einfach zu schnell. Schwierig war es nicht, Personen zu finden, die auf die Liste gehörten, sondern Gründe zu finden, Personen nicht auf die Liste zu setzen.
Innerhalb weniger Jahre nach den Anschlägen vom 11. September wurde es in bestimmten Bevölkerungsteilen, die zur Mitte der Gesellschaft zählten, Mode, mit den Motiven von Terroristen zu sympathisieren. Was noch zwanzig Jahre zuvor in Irokesenschnitt und bunten Haaren Ausdruck gefunden hatte, äußerte sich nun als »Rebellion gegen amerikanische Werte« – wobei man sich weitgehend von den Mitteln des Terrors distanzierte und auf Verbalattacken beschränkte.
Für Leute in der Abhörbranche aber zählte nun mal das, was geredet wurde. Was bedeutete, dass ständig die erste Alarmstufe ausgelöst wurde, die eine Person als »suspekt« markierte. Hinzu kam, dass der interessierte Rebell bei seiner Recherche im Internet ohne weiteres auf zahlreiche neue Triggerwörter stieß. Wenn er bereits einen Stufe-eins-Alarm aktiviert hatte, und dann diese Wörter benutzte, löste er die zweite Alarmstufe aus. Je besser man sich mit dem Thema auskannte und je detaillierter man seinen Unmut über die USA äußerte, desto mehr Alarme löste man aus.
Infolgedessen schwollen die Watch Lists unaufhaltsam weiter an. NSA , FBI , CIA , NCTC und weitere Behörden sammelten endlos Daten, wussten aber nicht, was sie damit anfangen sollten, denn sie konnten die Analyse der gigantischen Datenmengen nicht mehr bewältigen. Solange dieses Problem nicht gelöst war, blieben all die Indizien, die vielleicht oder vielleicht auch nicht in den gesammelten Daten steckten, ungenutzt.
Erkenntnisse darüber, wie das Problem in Angriff genommen werden könnte, lieferte kurioserweise eines der vielen von der NSA geförderten akademischen Programme.
Kaum hatte Harry Chaff das Labor von Professor Aore am Georgia Institute of Technology betreten, verwandelte sich der blaue Himmel der letzten kostbaren Tage zwischen Sommerende und Semesteranfang schlagartig in ein tristes Grau. Harry Chaff war der frisch gekürte Dekan am College of Computing, und er machte seine Runden durch die Labors, um seine Fakultät kennenzulernen.
Wäre das Semester bereits in vollem Gange gewesen, hätte Professor Aore sich damit herausreden können, dass er sich auf seine Seminare vorbereiten musste. Stattdessen blieb ihm nichts anderes übrig, als Dekan Chaff zuliebe alles stehen und liegen zu lassen. Zehn Minuten später war er mitten in einer Vorführung seiner jüngsten Forschungsergebnisse.
Professor Aore, seine Studenten und Professor Mikens von der Linguistik arbeiteten an neuen Verfahren für Online- DVD -Empfehlungen auf Grundlage der individuellen DVD -Vorlieben eines Nutzers (ermittelt zum Beispiel anhand ausgeliehener DVDs oder von Filmen, die online geguckt wurden). Zwar kamen hierbei komplexe graphtheoretische, mathematische Methoden zur Anwendung, doch ging es der Forschungsgruppe vor allem darum, ihre Erfindung an ein Dotcom-Unternehmen zu verkaufen.
Professor Aore begann seine Vorführung für Dekan Chaff mit einigen Beispielen.
»Stellen Sie sich vor, Sie haben sich ein paar Filme angeschaut und wollen einen weiteren finden, der Ihnen gefallen könnte.«
Er klickte einige DVD s an, Trennung mit Hindernissen , Liebe braucht keine Ferien und Das Schwiegermonster . Der Bildschirm spuckte ein paar kryptische Zeilen aus, unter denen dann der empfohlene Filmtitel erschien.
»Wir haben herausgefunden, was Ihre Vorlieben sind, und empfehlen Ihnen
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