Silicon Jungle
anderen Seite des Firmengeländes.
Dieser sorgsam errichteten Abschirmung war es zu verdanken, dass die selige Begeisterung der vier Data-Mining-Praktikanten für das Unternehmen anhielt, und das trotz, oder in ihrem Fall, gerade wegen der Papiere, die sie soeben unterschrieben hatten. Der Gedanke, dass all diese Daten genutzt wurden, um Gewinne zu erzielen, war ihnen noch nicht gekommen. Was sie dagegen wussten, war, dass ihnen der Schlüssel zu einem Königreich aus reinen, rohen Informationen überreicht werden würde. Nur wenige Mitarbeiter außerhalb von Atiqs Gruppe dachten je darüber nach, welche Mengen von Aktivitäten, Gedanken und Wünschen in Ubatoos Wolke gespeichert waren und nur darauf warteten, ausgeschöpft zu werden.
Und außer Atiq begriff absolut niemand, welche enorme Tragweite es hatte, dass von nahezu jedem User im Internet ein Profil erstellt worden war. Fast jeder, der einen Computer auch nur angefasst hatte, hatte irgendwann mindestens einen von Ubatoos Diensten genutzt, ob nun über einen von Ubatoos Partnern oder direkt über Ubatoo. Von jedem User war ein Profil erstellt worden, das darauf wartete, mit zahllosen kleinen Einzelheiten aus ihrem Leben gefüllt zu werden, ob wichtig oder nicht, ob im Laufe einer Stunde oder eines Jahres. Alles, was die Praktikanten bislang wussten, basierte auf dem Dokument, das sie unterschrieben hatten. Mit Sicherheit wussten sie daher nur, dass die Datenmenge groß war. Und das war eine maßlose Untertreibung, wie sie bald erkennen würden.
EUPHORIE UND DIÄTPILLEN
1. Juni 2009.
Ein abgezehrter Inder mit fülliger Haarpracht steuerte auf einem mit Flammen bemalten Kickboard direkt auf ihren Tisch zu. Er stoppte Zentimeter vor Kohans Stiefeln und lächelte, während er den Cowboy von oben bis unten musterte. Ohne von seinem Tretroller zu steigen, sagte er: »Ich bin Jaan Ramamurthi – euer Betreuer. Folgt mir.«
Wenn es so etwas wie eine Aristokratie der Data-Mining-Community gab, dann gehörte Jaan Ramamurthi auf jeden Fall dazu. Natürlich war Jaan längst nicht so populär wie die blaublütige Prominenz aus der Regenbogenpresse, aber so mancher echte Adelige hätte sich die Hochachtung gewünscht, die Jaans Name an diesem Tisch hervorrief. Von den vier hatte nur Kohan ihn schon einmal gesehen. Er war dabei gewesen, als Jaan im letzten Sommer während der Tagung über »Mustererkennung und maschinelles Lernen« den renommierten Breakthrough Award verliehen bekam.
Sie hetzten hinter Jaans Kickboard durch eine idyllische Grünanlage, vorbei an den obligatorischen plätschernden Springbrunnen und makellosen Fassaden. Ein deutlicher Kontrast zu dem Anblick, der sich ihnen gleich darauf bot. Die strengen, funktionalen Gebäude, auf die sie zugingen, waren eine trostlose Mischung aus dunkel getöntem Braunglas und nur ein wenig hellerem braunem Beton. Alle dreißig Meter stand ein Schild neben dem Gehweg: »Zugang nur für Mitarbeiter. Gäste nicht zugelassen.«
Vor Gebäude 11 stieg Jaan schließlich von seinem Tretroller und stellte ihn auf dem dafür vorgesehenen Miniparkplatz ab. Eine Empfangssekretärin, die hinter ihrem hohen, knallbunten Schreibtisch kaum zu sehen war, drückte einen Knopf, woraufhin sich hinter ihrer linken Schulter geräuschlos eine Tür öffnete. »Guten Morgen, Jaan«, rief sie laut, das einzige Geräusch neben Kohans Stiefeln, die auf dem glänzenden Betonboden klapperten. Jaan würdigte sie kaum eines Blickes, als er an ihr vorbeiging, und murmelte ein leises »Danke«. Die vier folgten ihm dicht auf den Fersen.
Das Labyrinth von Korridoren, das sie erwartet hatten, entpuppte sich als großer offener Raum mit niedrigen knallbunten Arbeitszellen in der Mitte und kleinen gläsernen Büros drum herum. Man konnte so nicht nur von einem Ende des Raums zum anderen blicken, sondern es fiel auch von allen Seiten natürliches Licht ein. Ein leises konstantes Summen hing in der Luft – der Klang von Hunderten Computern.
Die gläsernen Büros sahen nicht besonders eindrucksvoll aus, aber die überwiegend älteren Mitarbeiter, die darin saßen, mussten sich diesen Platz durch irgendeine übermenschliche technische Glanzleistung oder Produktentwicklung verdient haben. In jedem Büro befanden sich zwei oder mehr Whiteboards, auf denen Pfeile und Kästchen und kaum lesbare Formeln gekritzelt und riesige Magneten mit der Aufschrift »nicht löschen – ¡no borres!« großzügig verteilt waren.
In Gebäude 11 war die
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