Silicon Jungle
das unter einem Kopftuch hervorlugte, kam an die Tür, lächelte strahlend und bedeutete Molly hereinzukommen. Ehe Molly eintrat, drehte sie sich um und winkte Stephen mit einer ausladenden Armbewegung übertrieben zu. Dann verschwand sie im Haus.
Wollte sie ihm damit sagen: »Komm, ich brauch dich«, war es ein Signal für die anderen im Haus, dass jemand auf sie wartete, oder hatte sie ihn damit beruhigen wollen, dass alles in Ordnung war?
Es wurde 19.00 Uhr und später, aber niemand sonst betrat das Haus. Vielleicht sprachen die von der ACCL mit jedem einzeln, und die nächste Person würde erst kommen, wenn Molly wieder weg war. Es war ja immerhin ein sehr privates Thema.
Um 19.13 öffnete sich langsam die Fliegentür und ein dunkelhäutiger Mann kam heraus. Er hielt eine Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger, hob die Faust an den Mund und inhalierte tief. Er wandte den Kopf und blickte Stephen direkt an. Vielleicht verhinderten die Spiegelungen auf der Windschutzscheibe, dass der Mann ihn gut sah, aber sicher konnte Stephen sich nicht sein. Der Blick blieb eine unbehagliche Minute lang starr auf ihn gerichtet. Als der Mann aufgeraucht hatte, drehte er sich um und ging zurück zum Haus. Auch er blieb kurz stehen, ehe er durch die Tür verschwand, und warf noch einen Blick zurück in Stephens Richtung.
Um 19.35 beschloss Stephen, das Auto umzusetzen. Von seiner derzeitigen Position aus konnte er nur die Fliegentür sehen, aber nicht hindurch. Er wendete am Ende der Straße in großem Bogen und parkte auf der anderen Straßenseite, direkt gegenüber der noch immer geöffneten Haustür. Drinnen war nichts zu sehen. Fast wirkte das Haus unbewohnt.
Ich hätte mit reingehen sollen. Ich hätte drauf bestehen sollen. Stephen hatte Molly wiederholt angeboten, sie zu dem Treffen zu begleiten, aber sie hatte unbedingt allein gehen wollen. Ihr war wohl klar, dass Stephen die Situation nicht unbedingt erleichtern würde. Molly wollte so unbefangen wie möglich an die Sache rangehen, und Stephen war alles andere als unbefangen.
Um 19.45 kam er zu dem eindeutigen Schluss, dass es sich um ein »Komm-rette-mich«-Winken gehandelt hatte. Dennoch blieb er im Wagen sitzen. Er würde bis 20.01 warten.
Sechzehn Minuten waren reichlich Zeit. Seine Gedanken überschlugen sich. Vor seinem geistigen Auge spulte er abermals ab, was ihn hierhergeführt hatte. Dann wurde es 20.02. Im Haus rührte sich nichts.
»Schön, dann eben 20.10«, dachte er entschlossen. »Keine Sekunde später.«
RUFE IN DEN WIND
Februar 1996.
Er war ein ausgesprochen traditioneller Inder, der in einem kleinen Vorort von Grand Forks, North Dakota, einen verstaubten Laden betrieb und die Farmer der Gegend mit Bedarfsartikeln und selbst gemachten Currys belieferte …
Unwahrscheinlicher kann eine Geschichte nicht anfangen. Aber das war Rajives Vater, ein Immigrant der ersten Generation, der aus dem indischen Lakhnau stammte.
Als gut erzogener, pflichtbewusster Sohn, vor allem als pflichtbewusster einziger Sohn spielte Rajive nie ernsthaft mit dem Gedanken, weit von seiner Heimatstadt wegzuziehen – selbst dann nicht, als von Universitäten im ganzen Land Zusagen für einen Studienplatz ins Haus flatterten. Die Studiengebühren wären eine zu große materielle und die Entfernung eine zu große emotionale Belastung für seine Eltern gewesen. Als Informatik- und Elektrotechnikstudent an der University of North Dakota war sich Rajive sehr wohl darüber im Klaren, was er aufgegeben hatte, als er sich gegen die renommierteren Hochschulen entschied. Eines Tages, als er mit seinem Vater zusammen im Laden stand, ereilte Rajive ganz ohne Vorwarnung und nur drei Monate vor seinem Examen urplötzlich die Freiheit.
» Raju , deine Mom und ich gehen zurück nach Lakhnau.« Das musste er erst mal verarbeiten. Raju? So hatte sein Vater ihn nicht mehr genannt, seit er zwölf gewesen war. Zurück nach Indien? Nach vierundzwanzig Jahren in den USA ? »Wir sind deinetwegen hiergeblieben – damit du dein Studium zu Ende bringen kannst. Jetzt wo du praktisch fertig bist, können deine Mom und ich nach Hause gehen.«
Rajive blickte seinen Vater einen Moment lang an. Wenn indische Jungs ihre Väter umarmen würden, hätte er es in diesem Moment getan. Er hätte wenigstens »Danke« gesagt, oder vielleicht sogar »Das hättet ihr doch nicht für mich tun müssen«. Doch Gefühlsausbrüche fielen ihm nicht leicht. Stattdessen erwiderte er, ohne seinen Vater anzusehen:
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