Silo: Roman (German Edition)
»Nimm deinen Freund und deine laute
Maschine und geh.«
Darum ging es also.
Juliette fiel der umgeworfene Kompressor ein. Sie nickte den beiden kleineren
Jungs zu, die vielleicht zehn oder elf Jahre alt waren. »Packt ruhig weiter«,
sagte sie. »Ihr müsst meinem Freund und mir nach Hause helfen. Wir haben gutes
Essen für euch. Und richtigen Strom. Heißes Wasser. Sucht eure Sachen zusammen …«
Das jüngste Mädchen
schrie laut auf, ein entsetzlicher Schrei, wie der, den Juliette aus dem
dunklen Gang gehört hatte. Rickson lief nervös im Raum umher, sein Blick
wanderte von ihr zu dem Schraubenschlüssel auf dem Boden. Juliette trat auf das
Bett zu, um das kleine Mädchen zu trösten, dann bemerkte sie, dass gar nicht
sie geschrien hatte.
Im Arm des älteren
Mädchens bewegte sich etwas.
Juliette erstarrte.
»Nein«, flüsterte
sie.
Rickson machte einen
Schritt auf sie zu.
»Bleib stehen.« Sie
hob noch einmal das Messer. Er schaute auf die Wunde an seinem Bein und wich
zurück. Die beiden kleinen Jungen verharrten regungslos über ihren halb
gepackten Taschen. Niemand rührte sich, bis auf das Baby, das in den Armen des
Mädchens strampelte und weinte.
»Ist das ein Baby?«
Das Mädchen drehte
Juliette die Schultern zu. Eine eindeutig mütterliche Geste, obwohl sie selbst
nicht älter als fünfzehn war. Juliette hatte nicht gewusst, dass eine
Schwangerschaft in dem Alter überhaupt schon möglich war. Sie fragte sich, ob
man deshalb das Implantat so früh bekam. Ihre Hand wanderte unwillkürlich zu
ihrer Hüfte, sie berührte die Stelle, die Wölbung unter ihrer Haut.
»Geh weg«, flüsterte
das Mädchen. »Es ging uns hier gut ohne euch.«
Juliette legte das
Messer hin. Es fühlte sich komisch an, es abzulegen, aber es in der Hand zu
halten, während sie zum Bett hinüberging, wäre noch seltsamer gewesen. »Ich
kann dir helfen«, sagte sie. Sie wandte sich um, damit der Junge sie ebenfalls
hörte. »Ich habe früher auf einer Kinderstation gearbeitet. Lass mich mal sehen …« Sie streckte die Hand aus. Das Mädchen wandte sich noch weiter zur Wand um
und schirmte das Baby ab.
»Okay«, sagte
Juliette und hielt die Hände hoch. »Aber so könnt ihr nicht weiterleben.« Sie
wandte sich an Rickson, der sich nicht vom Fleck gerührt hatte. »Keiner von
euch. Niemand sollte so seine Tage verbringen, nicht mal, wenn es die letzten
wären. Sucht eure Sachen zusammen. Nur das Nötigste. Den Rest können wir später
holen.« Sie nickte den beiden kleineren Jungen zu, deren Overalls an den Knien
zerrissen und schmutzig von der Arbeit auf der Farm waren. Die beiden sahen das
als Erlaubnis an weiterzupacken. Sie schienen sich zu freuen, dass jemand
anderes das Kommando übernahm, vielleicht jemand anderes als ihr Bruder, falls
er das war.
»Wie heißt du denn?«
Juliette setzte sich zu den beiden Mädchen aufs Bett, während die anderen in
ihren Sachen wühlten. Sie zwang sich, ruhig zu bleiben und nicht darüber
nachzudenken, dass diese Kinder bereits eigene Kinder hatten.
Das Baby schrie.
»Ich will euch
helfen«, sagte Juliette. »Kann ich mal sehen? Ist es ein Junge oder ein
Mädchen?«
Die Arme der Mutter
entspannten sich. Sie schlug die Decke zurück, und Juliette sah die
zusammengekniffenen Augen und roten Lippen eines Babys, das höchstens ein paar
Monate alt war. Es ruderte mit seinen kleinen Ärmchen in der Luft.
»Ein Mädchen«, sagte
sie sanft.
Das jüngere Mädchen,
das sich an die Seite der Mutter drängte, guckte Juliette an.
»Hat es schon einen
Namen?«
Sie schüttelte den
Kopf. »Noch nicht.«
»Ich heiße Elise«,
sagte das kleine Mädchen und kam hinter seiner Mutter hervor. Sie zeigte auf
ihren Mund. »Ich hab einen Wackelzahn.«
Juliette lachte.
»Damit kann ich dir auch helfen.« Sie wagte sich etwas vor und drückte dem
Mädchen freundlich den Arm. Sie erinnerte sich an ihre eigene Kindheit auf der
Säuglingsstation ihres Vaters, an die besorgten Eltern, an all die Hoffnungen
und Träume, die mit der Lotterie zusammenhingen. Juliettes Gedanken wanderten
zu ihrem Bruder, der nicht hatte leben sollen. Was mochten diese Kinder
durchgemacht haben? Solo war immerhin noch in der Normalität eines
funktionierenden Silos aufgewachsen. Er wusste, wie es war, in Sicherheit zu
leben. Aber wie waren diese fünf oder sechs Kinder aufgewachsen? Was hatten sie
erlebt? Sie empfand tiefstes Mitleid mit ihnen. Mitleid, das an den traurigen
Wunsch grenzte, diese Kinder wären nie geboren
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