Silver Moon
meine Augen an, um sehen zu können, was auf dem Blatt gezeichnet war.
»Erkennst du’s? Ist von deinem Bruder, der Schmierfink hat’s vorhin gemalt! Und schau mal, da, ganz unten«, sagte er und deutete mit seinem schmutzigen Finger auf die linke Ecke, »da hat der Künstler sogar unterschrieben, mit seinem eigenen Blut!«
Brocks Grinsen wurde noch breiter. Seine widerlichen gelben Zähne stachen deutlich hervor und in mir drehte sich vor Angst der Magen um. Mir wurde übel, als ich die bräunlich rote Schrift ganz unten sah: Nino, stand dort verschwommen.
»Blut?«, fragte ich fassungslos.
»Nur ein bisschen! Hab ihm in den Finger geschnitten, damit er unterzeichnen konnte, aber wie der sich dabei aufgeführt hat … Viel erträgt der Junge nicht! Wird wohl ’ne harte Nacht für ihn werden. So schön wie in eurem Keller hat er’s bei mir nicht!«
Mein Herz rutschte noch tiefer. Die Angst war zurück – dieses kalte, beklemmende Gefühl nistete sich gerade wieder in mir ein und jagte einen Schauer nach dem anderen über meinen Rücken. Ich war verzweifelt und wusste nicht, was ich tun sollte. Resigniert setzte ich mich auf eines der roten Sofas, die in der Lobby standen, und starrte auf die grauen Fliesen am Boden.
»Wo ist Nino?«, fragte ich nach einer Weile flüsternd. »Ich habe ihn gut bei mir versteckt. So leicht findet ihr ihn nicht. Allerdings hat er ein sehr unbequemes Lager, zwischen Ratten und Mäusen, die vor allem heute Nacht zu ihm kommen werden. Aber dann hat er wenigstens Gesellschaft! Und eine so gute Köchin wie du bin ich auch nicht. Bei mir bekommt der Junge höchstens den Abfall zum Fraß!«
»Was willst du, Magnus?«
»Das weißt du ganz genau, und du weißt auch, wo du mich findest. Also dann, schönen Tag noch!« Mit diesen Worten drehte er sich um und wollte gehen.
»Warte! Ich komme ja mit, aber du lässt Nino dafür gehen!«
Kein Mensch auf dieser Welt konnte abartiger Grinsen als Brock. Sein garstiges Lächeln war teuflisch und ich musste es mir wieder ansehen. »Ob und wann ich ihn gehen lasse, hängt ganz von dir ab, Täubchen! So einfach wie euer Vater mach ich es euch aber nicht! Der Junge darf nur gehen, wenn du ab sofort ständig bei mir bleibst! Du gehst weder nach Hause, noch betrittst du dieses Krankenhaus wieder. Überhaupt wirst du das Brockhaus nicht mehr verlassen, du bleibst nur noch bei mir, basta!«
Seine Worte glichen Schlägen und sie taten weh, dennoch hatte ich keine Wahl! Ich konnte Nino unmöglich bei ihm lassen! Schweren Herzens stand ich auf und folgte Brock zu seinem Wagen. Auf dem Weg saß er vergnügt am Lenkrad und warf mir Blicke zu, die mich das Grauen lehrten. Dieser Mensch widerte mich an; alles an ihm ekelte mich an, und ich wusste, was mich bei ihm erwarten würde. Dennoch saß ich neben ihm und ließ mich schweigend an den Ort zurückbringen, von dem ich ein paar Tage zuvor geflüchtet war.
Erstaunlicherweise führte mich Magnus aber nichts ins Brockhaus. Ich sollte ihm folgen … Hinter der Gaststätte, in einem verwilderten Garten, stand eine alte Baracke. Es war ein längliches Gebäude mit morschen Türen und Fenstern. Die Farbe blätterte von der Außenwand, überhaupt sah es sehr baufällig aus.
Gleich daneben befand sich ein großer Unterstand, er war voll Heu und Stroh, eine alte Kutsche stand auch noch darunter. Ehe ich mich weiter umsehen konnte, öffnete Magnus die vordere Tür der Baracke und stieß mich hinein. Ein Schrecken fuhr mir durch die Knochen … Vater war da! Er saß breitbeinig in einem alten weinroten Sessel, gleich neben dem winzigen Fenster und er blickte mich bösartig an. Ich blieb wie angewurzelt stehen und rührte mich nicht. Stattdessen stand Vater auf. Er kam langsam immer näher.
Ich sah ihn ununterbrochen an und wagte weder zu blinzeln noch zu atmen. Ich glich einer lebenden Toten, bis er unmittelbar vor mir stand. Es knallte laut … Erst, als ich spürte, wie heiß meine linke Wange wurde, realisierte ich, dass mich Vater geschlagen hatte. Es knallte erneut, ich bekam denselben Hieb auf die andere Seite.
»Jetzt lass sie in Ruhe!«, hörte ich Magnus noch sagen, aber da hatte Vater schon seine dicke Faust in meinen langen Haaren versenkt und zerrte mich damit zu einem alten Sofa, das in der Ecke stand. Er warf mich barsch darauf, zerrte mich allerdings wieder an den Haaren zu sich und stieß mich erneut auf das Sofa …
Das wiederholte er mehrfach, bis ich glaubte, kein einziges Haar mehr auf dem
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