Silver Moon
Menschen heilen, ihre bösen Geister vertreiben, die Harmonie herbeirufen und Zeremonien durchführen, mit schier unglaublichen Ergebnissen. Wir veranstalteten jedes Jahr einen Sonnentanz, ich leitete unzählige Schwitzhüttenzeremonien, und mir war es vergönnt, wahre Wunder als Medizinmann zu vollbringen, bis eines Tages ein Vorfall unser Glück zerstörte …«
Bobs Stimme wehte sanft durch die Nacht. Wir alle saßen gebannt im Kreis und lauschten seinen Worten. »Mit den mir geschenkten Gaben versuchte ich das Unmögliche – ich verriet das Geheimnis des Lebens. Die Geister waren erzürnt über meinen Versuch, den Tod zu umgehen, und wir wurden dafür bestraft. Fortan führte unsere Familie ein schwieriges Dasein, für meine Frau war es unerträglich. Roberta wollte die neue Situation nicht hinnehmen. Sie nutzte eine Vollmondnacht, um die Strafe allein auf sich zu nehmen. Meine Frau starb bei dem Versuch. Die Gläubigen und Vertrauten unseres Stammes waren sich der Macht der Geister bewusst, sie hatten Angst, daher zog ich es vor, mit meiner Familie zu gehen, um die anderen vor Schaden zu bewahren. Ich folgte den Rufen der Spirits, sie führten uns in eine neue Heimat, eure Heimat! In Elmenthal fanden wir ein Zuhause, ein Stückchen Erde, auf dem wir uns in Frieden niederlassen konnten. Meiner Tochter Kaya fiel der Abschied nicht schwer, aber Jacy, Sohn der Moores, dessen Familie seit Generationen von der Pferdezucht lebt, war anfangs gegen den Umzug. Allerdings hat er sich inzwischen auch in das fremde Land verliebt. Zudem hatten wir viel Glück: In unserem heutigen Anwesen lebte ein alter Bauer ganz alleine. Er war gebrechlich und schaffte es nicht mehr, seine Tiere zu versorgen. Seine Kinder waren gegangen und kümmerten sich nicht mehr um den alten Mann. Er bot uns an, kostenfrei bei ihm zu wohnen, wenn wir im Gegenzug seine Tiere pflegten. Wir nahmen dieses Geschenk dankbar an, kümmerten uns um die Tiere, brachten den Hof wieder auf Vordermann, und Kaya kümmerte sich um den älteren Herrn bis zu seinem Tod. Er hinterließ uns das Anwesen mit dem Wunsch, es in seinem Sinne weiterzuführen und einen Ponyhof daraus zu machen. Aus heutiger Sicht war der Neustart in Elmenthal das Beste, was uns passieren konnte. Das Leben in den Reservaten ist hart. Die amerikanischen Ureinwohner sind für viele Leute eine nicht nennenswerte Randgesellschaft, die von der Regierung im Stich gelassen wird. Chancen- und mittellos fristen die meisten ihr Dasein und sterben gar in jungen Jahren. Über fünfundneunzig Prozent der amerikanischen Ureinwohner leben unterhalb der Armutsgrenze, die Selbstmordrate ist viermal so hoch wie im restlichen Land und die Lebenserwartung der Lakota liegt bei durchschnittlich 45 Jahren. Das ist die mit Abstand kürzeste Lebenserwartung der westlichen Hemisphäre. Es ist traurig und rührt mich zu Tränen, wenn ich daran denke, was aus unserem einst so stolzen Volk wurde.«
Nino hing gebannt an Bobs Lippen. »Wieso? Ich meine, die USA sind ein reiches Land. Amerika, das Land der Träume … Weshalb geht es den Indianern dort so schlecht?«, wollte er wissen und sein Interesse war unübersehbar.
»Ja, das Land der Träume … Aber unsere Träume wurden uns genommen, unbarmherzig und rücksichtslos. Als die europäischen Siedler kamen, verloren wir mehr und mehr unser Land. Sie haben es uns gestohlen, in blutigen Kämpfen entrissen. Wir wurden verdrängt, in Reservate gesteckt, die sie nach und nach verkleinerten. In den Anfangszeiten waren die Reservate nichts anderes als Gefangenenlager, die Ureinwohner durften sich teilweise noch nicht einmal frei bewegen, auch wurde ihnen das Recht auf Fischfang und Jagd abgesprochen. Unseren Eltern und Großeltern war es somit unmöglich, sich ausreichend alleine zu ernähren. Sie waren plötzlich auf die Regierung bei der Nahrungsversorgung angewiesen. Die Regierung aber nutzte die Notsituation als Druckmittel, wenn sich ein Indianer den weißen Gesetzen nicht unterwarf, und strafte ihn und seine Familie mit Nahrungsentzug. So machten sie uns gefügig. Wir sollten in den Reservaten zivilisiert werden, dann würden sie uns unsere Freiheit wiedergeben, wurde uns nahelegt. Unser Volk war seit jeher zivilisiert, wir taten weder Mensch noch Tier, noch der Natur unrecht, wir nahmen nur das, was wir auch wirklich zum Überleben brauchten, und beuteten unsere heilige Mutter Erde nicht aus. Die heutigen Nachkommen der Ureinwohner Amerikas, die in Reservaten leben,
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