Silvermind (German Edition)
aufzustehen. Ganz gleich, was er dafür opfern musste oder verlor.
Dean hatte ihm oft zur Seite gestanden. Sein Kumpel hatte mitbekommen, wie schnell das Leben in anderen Bahnen verlaufen konnte. Ohne Einfluss zu haben. Ray war ein Musterbeispiel dafür. Mit der Zeit hatte er gemerkt, dass er den Menschen mit seinen Problemen wehtat. Sei es, dass sie mit ihm litten oder sich einen Kopf um ihn machten. Ray wollte das nicht. Nur schien der Gedanke, die Personen auszugrenzen, nicht der richtige zu sein. Denn damit verletzte Ray sie. Vielleicht sogar mehr, als sie an seinem Leben direkt teilhaben zu lassen.
Seufzend ließ er sich auf eine Bank nahe dem Stadtpark sinken. Der Regen war stärker geworden, durchtränkte ihn bis auf die Knochen. Er zitterte vor Nässe und Kälte. Es war ein gutes Gefühl, seinen Körper zu spüren. Die letzten Tage hatten ihn innerlich sterben lassen. Aber hier draußen im Regen spürte er unter der Haut sein Herz schlagen, hörte das Blut in sich rauschen, sah die Wärme, die einen zarten Dunst bildete und zum Himmel aufstieg.
Ray ließ den Blick über die in Regen gehüllte Gegend schweifen. Tropfen zogen Kreise auf der nassen Fahrbahn, Pfützen sammelten sich am Straßenrand und den Gehwegen. Die Luft roch nach kaltem Frühling, geschwängert mit dem Duft des herabfallenden Wassers. Der Himmel wurde gereinigt, verlor das dunkle Grau, das sich langsam zu einem nächtlichen Blau veränderte.
Die Umgebung wirkte friedlich, gänzlich gegensätzlich zu dem, was in Ray vorging. Unweigerlich kam ihm das Gesicht von Nero in den Sinn. Wegen dieses Mannes hatte er die letzten Nächte kaum Schlaf finden können. Einerseits belastete Ray der Zukunftsgedanke, andererseits barg die Gegenwart etwas, das er nicht einordnen konnte. Er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte. Die eine Nacht bei Nero, der Morgen danach hatten ihm gezeigt, dass er sich nicht länger entziehen konnte. Ray konnte sich des Gedankens nicht erwehren, dass er in Neros Nähe das fand, was ihm insgeheim fehlte.
Ray leckte sich die Lippen, schmeckte den Regen, der seine Haut benetzte. Sein Fuß wippte auf und ab, die Sohle des Schuhs platschte immer wieder in eine Pfütze. Ihm war kalt, doch er wusste nicht, wie er diese Kälte vertreiben sollte. Die Indolenz hatte sich über Jahre hinweg eingestellt. Manchmal hatte er den Wunsch, einen Mann zu treffen, an den er sich in solchen Situationen anlehnen konnte. Jemanden zu haben, der ihn auffing, wenn er drohte, in die Tiefe zu stürzen.
Aber die Person gab es nicht. Eine solche hatte es bisher nie gegeben. Bis auf ein paar One-Night-Stands war Ray in keiner ernsthaften Beziehung gewesen. Die einzige dauerhafte Unterstützung war die von Dean. Nur reichte diese Ray in manchen Momenten nicht.
Er hielt das Gesicht in die Tropfen, die vom Himmel fielen, schloss die Augen und atmete tief ein. Zurückblickend auf die Vergangenheit hatte Ray das Leben gut gemeistert. Trotzdem es nie einfach gewesen war. Für die Zukunft wollte er allerdings etwas anderes. Nicht alleine auf weiter Flur stehen und nicht für jede Kleinigkeit einen Kampf ausfechten müssen.
Als Ray anfing, erbärmlich zu frieren, stand er mit steifen Gliedern auf. Er rieb die Hände aneinander, hauchte hinein und unterdrückte das Zähneklappern. Zu lange hatte er bei diesem Mistwetter draußen gesessen. Langsam kehrte er um. Als er das Mehrfamilienhaus erreichte, in dem Dean wohnte, stieß er ein erleichtertes Seufzen aus. Er brauchte dringend eine heiße Dusche.
Die Treppen erstiegen klopfte Ray mit zitternden Gliedern gegen die Tür. Augenblicklich wurde diese geöffnet. Ray blinzelte ob des einfallenden Lichts ein paar Mal. Zeno stand vor ihm. Aus dem Hintergrund drang mädchenhaftes Gelächter zu ihm. Zudem das tiefe Stimmengemurmel von Männern.
„Nass geworden?“, meinte der Drummer grinsend und ging einen Schritt zur Seite, um ihn einzulassen.
„Baden gegangen.“
„Weil draußen so schönes Wetter ist, verstehe … Dean wollte dich suchen gehen.“ Ray zog eine Augenbraue in die Höhe. Vergeblich versuchte er, sich die durchweichte Jacke abzustreifen. Zeno kam ihm zur Hilfe.
„Warum?“
„Wie lange warst du weg?“
„Keine Ahnung. Nur kurz draußen.“ Die Stimmen aus dem allgemeinen Wohnraum erstarben. Keine Sekunde später erschien Dean im Türrahmen und funkelte ihn erbost an. Ray wusste nicht, was los war.
„Schön, dass du auch wieder da bist. Ans Handy gehen ist nicht,
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