Sind wir nun gluecklich
hundert Meter von Ground Zero entfernt. Auch das war nun im Grunde eine »Ruine«, wenn auch keine so offensichtliche wie die der Überbleibsel vom 11. September, aber doch eine, die in diesem Moment auf andere Art Wunden gerissen hatte.
An jenem Tag bot sich uns in der Wall Street ein ungewöhnliches Bild. Am Hochhaus der New Yorker Börse hing eine riesige amerikanische Flagge, unweit davon die Statue von George Washington, die schon lange hier steht, und dann war da noch wegen einer Ausstellungseröffnung ein großes Bild von Abraham Lincoln. Es sah aus, als würden die beiden großen Männer der amerikanischen Geschichte auf diese riesige Flagge blicken, mit gleichem Ernst und gleicher Skepsis. Dieser seltsame Anblick war für mich von hohem Symbolgehalt. Wie würde es weitergehen mit den krisengeschüttelten Vereinigten Staaten? Und wie mit der krisengeschüttelten Welt, inklusive China? Würde alles einfach wieder gut werden?
Auf der anderen Seite der Wall Street steht der berühmte bronzene Bulle, vor dem Touristen Fotos von sich schießen lassen. Ich meinte zu meinem Kollegen:
»Wenn es vor zwanzig Jahren mit dem US-Imperialismus vorbei gewesen wäre, hätten sich wahrscheinlich bei uns viele gefreut. Aber heute, wo wir alle miteinander verflochten sind, bekommt auch China einen Schnupfen, wenn die USA eine Grippe haben. Deshalb wünschen sich mittlerweile viel mehr Menschen, dass die USA bald wieder auf die Beine kommen, denn das chinesische BIP ist auch hier zu Hause. Das gilt ebenso für die Arbeitsplätze der Leute überall in der Welt. Und dann gibt es noch die vielen Chinesen, die den USA Geld geliehen haben …«
Wir wollten schon ins Hotel, als ich die Bauzäune überall bemerkte. Die alte Wall Street war also under construction . Deshalb ließ ich die Filmkamera laufen und sagte meine ersten Sätze nach unserer Ankunft in den USA:
»Auch heute sind nicht wenige Touristen in der Wall Street, dem bekanntesten Finanzzentrum der Welt. Doch frage ich mich, wie sich die Leute hier angesichts der derzeitigen Finanzkrise fühlen. Wir können sehen, dass die Wall Street gerade repariert wird, aber das, was es hier zu reparieren gilt, ist mehr als nur eine Straße.«
Detroit: Eine »leere Stadt« mit verunsicherter Bevölkerung
Detroit, weltweit bekannte Autostadt, Heimat von General Motors und anderen Automobilherstellern: Bei unserer Ankunft herrschte eine beunruhigende Stille. Das war nicht die feierliche Stille von ländlichen Gegenden, sondern die monströse Lautlosigkeit der Abwesenheit von menschlichem Leben in der Stadt. Die einst so prosperierende Zwei-Millionen-Metropole war infolge der anhaltenden Wirtschaftskrise auf eine Million Einwohner geschrumpft.
Am Abend wollten wir etwas essen gehen und verließen unser Hotel zu Fuß, drehten aber nach einigen hundert Metern wieder um und kehrten in einen kleinen Imbiss gleich neben dem Hotel ein. Wir fühlten uns nicht wohl in unserer Haut und wagten nicht mehr, einen Fuß vor die Tür zu setzen. Es waren kaum Menschen auf der Straße, alle Jubeljahre kam ein hupendes Auto vorbei, und ansonsten stieß man vielleicht auf einen, der eine mysteriöse »Bibel« in der Hand schwenkte und dir irgendetwas Unverständliches zurief. Sicher fühlten wir uns hier nicht.
Eine schlaflose Nacht und noch keinerlei Eindrücke von der Stadt: Wir waren gespannt auf Detroit bei Tag.
Am nächsten Morgen besuchten wir General Motors für ein Interview mit dem neuen CEO Fritz Henderson, der Wagoner abgelöst hatte. Glücklicherweise hatte er innerhalb weniger Tage den Termin mit uns bestätigt, vielleicht setzte er seine Hoffnungen für GM auf den chinesischen Markt.
Er begrüßte uns mit einem breiten Lächeln und einer Tasse Starbucks-Kaffee in der Hand. Es lag vielleicht daran, dass GM in den USA gerade wegen der Verschwendung seines Managements durch den häufigen Gebrauch von Privatjets und dergleichen in der Kritik stand, jedenfalls empfing er uns in einem bescheidenen Konferenzzimmer im Bürogebäude. Er gab sich zuversichtlich und selbstbewusst, und natürlich betonte er die großen Hoffnungen und die Bewunderung, die er mit dem chinesischen Markt verband.
Ein Jahr später, als GM sich langsam von der Krise erholt hatte, war auch Henderson schon wieder abgelöst worden. Im selben Jahre hatte China Geely die unter der Flagge von GM fahrende schwedische Marke Volvo gekauft. Während der Finanzkrise löste der alte Rivale Toyota GM kurzzeitig an der Spitze der
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