Sind wir nun gluecklich
frühstückten und in der Bibliothek die Zeitung lasen. Es wirkte sehr harmonisch auf uns. Es gab Leute, die wegen der Krise ihre Arbeit verloren hatten, die Familie aber nichts davon wissen lassen wollten und sich lieber Tag für Tag so anzogen, als ob sie ins Büro gingen, und den ganzen Tag in der Bibliothek verbrachten. Kein Wunder, dass die Bibliothek sowohl in der Wirtschaftskrise von 1929 wie auch in dieser jeweils einen rasanten Zuwachs an Besuchern erfuhr. Hier konnten Arbeitslose sogar kostenlos mit den Computern im Internet nach Jobangeboten suchen.
Die öffentliche Bibliothek war nicht nur ein Ort, um Bücher und Zeitungen zu lesen oder Informationen zu sammeln, sie war auch zuständig für die Pflege der Nachbarschaftskultur und den Dienst an der Öffentlichkeit allgemein. Als wir dort filmten, fand zum Beispiel gerade ein kostenloser Englischkurs statt, dessen Teilnehmer allesamt Immigranten aus aller Welt waren. Diesen Gratisunterricht gab es jeden Tag, und noch dazu war der Lehrer ein gut ausgebildeter Muttersprachler.
Daneben gab es auch ein Wettsingen der Nachbarschaftschöre oder andere Arten von Unterhaltungsprogrammen. In den USA kommt auf zehntausend Einwohner eine Bibliothek, das ist das 46-fache der chinesischen Quote. Dabei fällt der Unterschied im Zahlenverhältnis meiner Meinung nach sogar eher weniger ins Gewicht als zum Beispiel die Tatsache, dass amerikanische Schulkinder nach der Schule hier einen sicheren Ort zum Spielen haben, alte Leute Abwechslung und Gesellschaft finden, Erwachsene sich weiterbilden können und Ausländer ihren ersten Unterricht nach der Ankunft in den USA haben. Und das alles mit freiem und ungehindertem Zugang, niemand wird diskriminiert.
Ich machte die Probe aufs Exempel: »Kann ich ein Buch ausleihen?«
»Natürlich, wir brauchen nur die Adresse Ihres Hotels«, lautete die Antwort.
Das machte auf mich als Ausländer einen gehörigen Eindruck. Die Betriebskosten der Bücherei werden zu 80 Prozent vom Staat und zu 20 Prozent durch diverse Spender getragen, wie dem Eisen-und-Stahl-Magnaten Carnegie, der mit seinen Spendergeldern zur Errichtung von mehr als 1600 öffentlichen Bibliotheken beigetragen hatte. Seine Begründung dafür: »Ich helfe den Leuten nur, sich selbst zu helfen.«
Als wir das Gebäude verließen, warf ich noch einmal einen Blick auf die Inschrift »Free to all«, und ich war richtig glücklich. Es war ein kalter Tag in Boston, aber wahrscheinlich machten im Inneren der Bibliothek gerade die Obdachlosen der Stadt ein gemütliches Nickerchen im Warmen.
Der Staat übernimmt die Rolle der Eltern
Ich habe ein schulpflichtiges Kind. Seit mein Sohn auf die Schule geht, gehört es zu meinem Leben und zu dem meiner Frau, ihn täglich dorthin zu bringen und abzuholen. Es ist freilich meine Frau, die den größten Part übernimmt, denn unser Zuhause liegt relativ weit von der Schule entfernt, deshalb muss man morgens sehr früh los, um nicht in den Verkehrsstau zu kommen. Und genauso ist es am Nachmittag. Tagaus, tagein verbringen wir wie die große Mehrheit der chinesischen Mütter und Väter viel von unserer Lebenszeit für den Transport unseres Kindes zu und von der Schule.
In den USA hingegen übernimmt der Staat diese Aufgabe. Die meisten amerikanischen Kinder werden vom Kindergarten bis zur Oberstufe in gelben Schulbussen zur Schule gebracht und abgeholt.
Der Bus hält morgens vor der Haustür und nimmt die Kinder mit, am Nachmittag setzt er sie dort auch wieder ab, Tag für Tag, Jahr um Jahr und bei jedem Wetter. Das lässt sich der Staat etwa 500 Dollar für jeden Schüler kosten, für behinderte Schulkinder sind es sogar rund 2000 Dollar.
Wir filmten in einem friedlichen kleinen Ort namens Monroe, wie zwei amerikanische Mütter morgens mit ihren Kindern an der Hand an einer Straßenecke, etwa zwanzig Meter von ihrem Zuhause entfernt, auf den Schulbus warteten. Nach wenigen Minuten traf der gelbe Bus ein, die Kinder verabschiedeten sich von den Müttern und fuhren davon. Danach ging die eine zurück nach Hause, und die andere führte den Hund spazieren. Wie wir sie so sorglos davonziehen sahen, wurde mir schlagartig bewusst, dass der Tag einer amerikanischen Mutter im Vergleich zu dem einer chinesischen 26 Stunden hat … Zwei Stunden werden ihnen geschenkt, weil sie ihre Kinder nicht selbst zur Schule bringen müssen.
Die Schulbusse sparen den Eltern aber nicht nur Zeit, sie sind auch ausgesprochen sicher. Sie verfügen stets über
Weitere Kostenlose Bücher