Sind wir nun gluecklich
Hin und wieder wagten ein paar Mutige, die Wände zu dekorieren, was sogleich für tagelangen Gesprächsstoff sorgte, und ernteten große Bewunderung dafür.
Die wildeste Tanzparty gab es nach der Rückkehr von unseren Praktika, die Teil des dritten Studienjahrs waren. Die Wiedersehensfreude verwandelten wir gleich in eine dreitägige Party über Neujahr, auf der so viel getanzt wurde, dass wir hinterher kaum mehr laufen konnten. Fußballspielen ging aber trotzdem noch – am Morgen danach wurde der verbliebene Hormonüberschuss in einem Fußballturnier verbraucht.
Die beste Musik hatten wir im Frühsommer 1989. Unser Abschlussexamen stand unausweichlich vor der Tür. Zu den Klängen von Cui Jians »Rock ’n’ Roll des Neuen Langen Marschs« 38 tanzten wir uns die Sentimentalität angesichts unseres bevorstehenden Abschieds aus dem Leib. Ich werde heute noch wehmütig, wenn ich daran zurückdenke. Auf dieser Party ging es schon nicht mehr darum, Mädchen kennenzulernen. Sie war Ausdruck unserer Verbundenheit und der Schwere des Abschieds, eines verschwommenen Unwillens, die gemeinsame Zeit endgültig hinter uns lassen zu müssen.
Gedichte und Rockmusik
Student zu sein und keine Gedichte zu schreiben war ein Widerspruch in sich, da gab es auch keinen Unterschied zwischen Studenten der Geistes- und der Naturwissenschaften, alle lasen Bei Dao, Shu Ting und Gu Cheng. 39 Das hatte natürlich sehr viel mit der damaligen Art, sich auszudrücken, zu tun. Ein Gedicht, egal, wie anspielungsreich oder direkt es war, berührte immer unmittelbar, es wurde zur Sprache dieser Generation. Heute verbergen die Leute lieber ihre Gedanken und Gefühle und erachten Gedichte als obsolet: »Wir halten den Mund und betrinken uns«, scheint ihre Devise zu sein.
Frisch an der Universität und noch vor dem Kontakt mit der Dichtung, wurden wir in unserer Klasse nach unserem Lieblingsmotto gefragt. Erstaunlicherweise gaben rund vierzig der siebzig Studenten als Motto an: »Geh deinen eigenen Weg und lass die anderen reden.« Es war für uns, die wir damals alle nach Selbstverwirklichung strebten, ein bewegendes Ergebnis. Der erste Schritt auf dem eigenen Weg war, eigene Gedichte zu verfassen.
Es war daher kein seltener Anblick, noch spätabends in den Wohnheimschlafsälen Studenten beim Verfassen von Gedichten vorzufinden. Und auch am Tag fand man immer wieder zwei Studienbrüder sich gegenübersitzend, in der Mitte eine Flasche Reisschnaps. Am Ende war die Flasche leer, und viele neue Gedichte waren geboren.
Der Einzug der Rockmusik entsprach einem weiteren Bedürfnis unserer Generation, auch sie wurde zu einem Weg, sich auszudrücken. Das Gefühl der Unterdrückung brauchte ein Ventil und das Bedürfnis nach Widerstand einen Weg. Die Rockmusik bot die Möglichkeit, diesem Bedürfnis indirekt nachzugeben. Meine erste Musikkassette war der Livemitschnitt eines Pekinger Konzerts der britischen Popgruppe »Wham«. Beschriftet war die Kassette mit dem interessanten Titel: »Das englische Orchester für elektronische Musik Wamu …« George Michael, Leadsänger der Popgruppe, wurde angeblich in den Neunzigern einmal von einem Journalisten gefragt, was bislang das unglaublichste Erlebnis seiner Karriere war. Er antwortete: »Das war unser erster Live-Auftritt in Peking 1984. Als das Pekinger Publikum unsere Musik gehört hatte, wurde es plötzlich totenstill im Saal.« George Michael weiß vermutlich bis heute nicht, dass es nur zwei Jahre später mit der Stille vorbei war. Als Cui Jian die Bühne betrat und »Ich habe nichts« sang, war das die Geburtsstunde einer neuen Generation, und meine Kommilitonen und ich durften bei diesem Konzert nicht fehlen.
Mein nächstes Tape war Michael Jacksons »Bad«. 5,50 Yuan kostete mich das und bedeutete, eine Woche lang die Zähne zusammenzubeißen und auf meine Reisration zu verzichten. Als Michael Jackson sich zwanzig Jahre später aus dieser Welt verabschiedete, lösten sich die Diskussionen, die zu Lebzeiten um seine Person kreisten, in nichts auf, und er wurde wieder zu einem Gott. Und dann betrat mein Sohn die musikalische Welt eines Michael Jackson. Oft habe ich seitdem von ihm gehört: »›Heal the World‹ ist das schönste Lied, das ich kenne.«
Auch das gehört wohl zu den Schlaglichtern, die die achtziger Jahre ins zweite Jahrtausend gerettet haben.
Der Abschied
Der Universitätsabschluss 1989 war mit nie gekannten Ängsten und dem Gefühl verbunden, in eine ungewisse Zukunft zu
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