Sind wir nun gluecklich
verbrachte also den Vormittag wie geplant damit, ein Trainingsseminar für Mitarbeiter zu halten, die im Ausland eingesetzt werden sollen. Über Mittag schlossen wir die Fotositzungen für den Jahreskalender ab, am Nachmittag hatte ich Fußballtraining, und am Abend wollte ich daheim mit meinem Team für den soeben von den Nationalspielen zurückgekehrten Kollegen Liu Jianhong einen Empfang geben. Wie man es auch betrachtet – das war ein ganz gewöhnlicher Tagesablauf eines gesunden wie gut gelaunten lebendigen Menschen.
Es ereigneten sich keine besonderen Vorkommnisse, ich ging zum Fußball und traf dort meine Sportsfreunde, die alle schon vor mir die Nachricht vernommen hatten und mich damit aufzogen. Tao Wei kam kurz vorbei und erzählte mir, dass er gerade ein Interview wegen meines angeblichen Suizids gegeben habe. Seine spöttische Antwort sei gewesen: »Ob er überhaupt weiß, wie man so was macht?«
Nach dem Fußballtraining fuhr ich mit meinen Ressortkollegen nach Hause. Ich hatte nicht erwartet, dass die Klatschpresse die Angelegenheit schon ins Netz gestellt hatte, obwohl an der Nachricht von meinem »Selbstmord« nichts dran war. Die Paparazzi hatten jedoch nichts Besseres zu tun, als mich auf dem Weg nach Hause und nach meiner Ankunft dort gründlich abzulichten und die Bilder ins Internet zu stellen. Es ist sinnlos, sie wegen der Sinnlosigkeit und Amoralität ihrer Jagd nach dem Privatleben anderer zu verdammen, denn für sie steht die Moral ohnehin weit hinter dem Unterhaltungswert zurück.
Zu Hause erhielt ich den Anruf eines von mir überaus geschätzten Journalisten der Southern Times , der mich nach der »Selbstmord«-Geschichte fragte. Ich antwortete ihm am Telefon mit zwei Sätzen: »Ich habe keine Ahnung. Tut mir leid, aber ich gebe keine telefonischen Interviews.« Wundersamerweise kündigte dieses Blatt dann am nächsten Tag in großen Lettern einen Bericht über die Nachricht zu meinem Suizid an. Ich las also erstaunt, was ich gesagt haben sollte: »›Ich hatte es vor, doch nachdem die Nachricht durchgesickert war, konnte ich es nicht mehr tun.‹« Sprachlos las ich hier Sätze wie: »… Eines Nachmittags explodierten beide Handys von Bai Yansong.« Dumm nur, dass ich gar kein zweites Handy habe, bei uns zu Hause hat nur noch meine Frau eins.
Ich schätze diese Zeitung nach wie vor und habe gute Gründe dafür, doch an der Stelle dieses Schreibers wäre mir unbehaglich zumute: Wie kann man nur das, was irgendjemand gesagt hat, falsch wiedergeben und noch dazu mit frei erfundenen privaten Details ausschmücken? Aber letzten Endes ist auch dieses Verhalten nachvollziehbar. Klatsch und Tratsch um jeden Preis sind einfach gefragt, dem kann sich kaum jemand entziehen. Was mich dennoch neugierig macht, ist, warum ausgerechnet die Meldung von meinem »Selbstmord« in die Welt gesetzt wurde. Darauf gab es so gut wie keine Antwort. Im weiteren Verlauf der ganzen Angelegenheit brachten einige Leute meinen »Freitod« gezielt mit meiner schlechten Beziehung zur übrigen Medienwelt in Verbindung. Doch darüber konnte ich nur meine Scherze machen: Wenn es darum ginge, dann hätte ich mich tatsächlich schon tausendfach umgebracht!
Eine Weile waren alle Leute sichtlich erheitert, sobald sie mich trafen, und als ich in Sichuan an einer öffentlichen Veranstaltung teilnahm, begannen die Artikel mit Ankündigungen wie »Erster Auftritt nach seinem Selbstmord« und wurden ergänzt durch Kommentare wie »Bai Yansong scheint gar nicht in so schlechter Verfassung zu sein«.
Ich versuchte es so zu interpretieren, dass es hier überhaupt nicht um meine Person ging, sondern dass es sich vielmehr um einen Scherz handelte, der in Wirklichkeit gar nichts mit mir zu tun hatte. Die Leute interessiert es nicht in erster Linie, ob etwas wahr oder falsch ist, sie wollen vor allem etwas zur Unterhaltung haben. Später trafen bei mir nach und nach Geschichten von wohlmeinenden Menschen darüber ein, wer in der Vergangenheit schon alles Suizid begangen haben sollte. Und je mehr ich darüber nachdachte, umso mehr fühlte ich mich erleichtert. Meine Kollegen Cheng Long, Liu Dehua oder Zhao Zhongxiang waren bereits vor über zwanzig Jahren als Selbstmörder dargestellt worden. Wenn es jetzt zufällig mich getroffen hatte, war dies also nichts Außergewöhnliches.
Die Menschlichkeit ist dabei, sich selbst auszumerzen, und erklärt dafür stellvertretend andere zu Selbstmördern.
Wo sind die ungezähmten
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