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Sind wir nun gluecklich

Sind wir nun gluecklich

Titel: Sind wir nun gluecklich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bai Yansong
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alten Enkel in der Notunterkunft wohnte. Wir erfuhren von ihnen, dass sie am Tag des Erdbebens mit ihrem Enkelsohn, Sohn und Tochter zusammen ins Krankenhaus zur Untersuchung des Kleinen gefahren waren, der einen angeborenen Herzfehler hat. Nach der Untersuchung ließen die Eltern die Großeltern mit dem Kleinen im Hof warten, während sie noch zahlen gingen. Genau in diesem Augenblick brach das Beben aus, und die beiden wurden unter den Trümmern des einstürzenden Krankenhauses begraben. Oma, Opa und das Baby entgingen aus purem Zufall im Hof dem Tod. Die kurze Trennung der alten Leute von den jungen wurde zu einer Trennung für immer. Eine weitere Prüfung war, dass nun das nicht mehr junge Paar die Elternrolle für ein kleines Kind übernehmen musste. Der Mann sagte: »Wir warten noch ein paar Tage, bis sich die Situation stabilisiert hat, dann gehe ich los und versuche, eine Arbeit zu finden. Denn wie soll ich sonst drei Personen ernähren können?«
    Beim Gespräch mit einer Gruppe von Helfern der Feuerwehr sagte ein junger Feuerwehrmann zu mir, er habe ein kleines totes Mädchen ausgegraben, am ersten Tag die obere Hälfte und am zweiten Tag die untere. Es war ihm klar, dass das wenig Sinn machte, aber was hätte er der Mutter des Mädchens sagen sollen …? Diese scheinbar so sinnlose Bergungsaktion brachte ihn selbst aber gleichermaßen in Gefahr. Solcherlei Geschichten gab es bei den Rettungsmannschaften viele.
    Beichuan, längst von der Umgebung abgeschlossen und für Journalisten und Kameras so gut wie unzugänglich, hieß seit dem Beben nur noch »die ehemalige Kreisstadt Beichuan«. Da der Parteisekretär des Landkreises den Vizeminister des Bauministeriums in die Kreisstadt begleitete, um Vorbereitungen für die Errichtung eines Erdbebenmuseums zu treffen, durften wir unter Aufbietung unserer Überredungskunst schließlich mit unseren Kameras in die Stadt. Das war eine Reise, die ich am liebsten vergessen würde.
    Nach der gründlichen Desinfektion zum Schutz vor Epidemien stießen wir also in die Stadt vor – oder das, was von ihr übrig war. Von der Anhöhe aus, auf der der inzwischen geschaffene Zugang lag, blickten wir auf Beichuan hinunter. Das Bergmassiv hatte sich durch einen enormen Erdrutsch um mehrere hundert Meter verschoben und innerhalb von Sekunden sämtliche Häuser, die am Fuße des Berges errichtet waren, unter sich begraben und mit ihnen so gut wie alle Menschen, die in ihnen wohnten oder arbeiteten, sofort in den Tod gerissen. Ihre Landsleute, die in anderen Teilen der alten Kreisstadt lebten, hatten dagegen vermutlich einen längeren und qualvollen Tod erlebt. Die Heimat, die einmal ihr Leben war, hat sich in ihr ewiges Grab verwandelt.
    Nach unseren Recherchen verließen uns die Helfer, mit denen wir Interviews geführt hatten, und wir blieben allein zurück in der ausgedehnten Trümmerlandschaft, die einmal eine Stadt war. Es war totenstill, der Geruch nach Desinfektionsmitteln stach in unsere Nasen, und nur vage konnte man Zeichen des Lebens erkennen, das einmal die zusammengestürzten Häuser erfüllt hatte: das Hochzeitsfoto eines Ehepaars an einer zur Hälfte stehengebliebenen Wand zum Beispiel. Wo sie wohl jetzt waren? Hier und dort stand ein Hund verloren zwischen den Ruinen der Stadt herum, lautlos, vielleicht wartete er immer noch auf die Rückkehr seines Herrn …
    Auf dem Rückweg kamen wir auf der Straße an einem freundlich grüßenden, großflächigen Plakat aus der Zeit vor dem Erdbeben vorüber: »Willkommen in Beichuan!« Beim Anblick dieser großen Schriftzeichen bekam ich einen Kloß im Hals. Ich musste anhalten. Mein Filmteam machte schweigend ein paar Aufnahmen der Gegend mit diesem Plakat davor. Es waren die einzigen Erinnerungsfotos, die auf meine Initiative hin während unserer Reportagearbeit entstanden. Sie waren für mich die Mahnung an ein Versprechen, das ich in diesem Moment gab: Ganz gleich, wo das neue Beichuan entstehen wird, ich werde wiederkommen.
    Es waren solche Episoden, die uns wiederholt schwer zusetzten und die anschließend, als wir sie im Fernsehen brachten, den Zuschauern zu schaffen machten. Es gab aber während unserer Arbeit am Unglücksort ein paar Details, die wir aus unseren Berichten aussparten und die sich uns allein ins Gedächtnis brannten.
    Als wir zu Reportagen über die Industrieanlage Dongqi in Hanwang, Kreis Deyang, fuhren, wollten wir sie eigentlich durch das Haupttor betreten, nahmen dann aber den Seiteneingang. Der

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