Sind wir nun gluecklich
des schlechten Gewissens abzuschütteln.
Wir hatten schon mehrfach darum gebeten, aber erst drei Tage nach der offiziellen Staatstrauer konnte unser Team von »Nachrichten 1+1« direkt aus Sichuan die Sendung »Beobachtungen aus dem Katastrophengebiet« machen.
Am Vorabend moderierte ich in Peking noch bis spät in die Nacht, bevor ich am nächsten Morgen mit dem Team nach Jinyang in Sichuan flog. Der Plan war, nach der Ankunft im Hubschrauber zu den Sicherungsarbeiten am Tangjiashan-See im Kreis Beichuan weiterzufliegen.
Tags zuvor hatte sich während der Rettungsarbeiten ein Zusammenstoß zweier Hubschrauber ereignet, bei dem die Piloten und Insassen in die Tiefe gestürzt waren und noch nicht wieder gefunden wurden. Deshalb galt die Weisung, hier nicht mehr mit Hubschraubern zu fliegen.
Ich musste mich über diese Weisung hinwegsetzen. Der Grund dafür war einfach. Die auf dem Gipfel des Bergs eingesetzten Arbeitskräfte sollten noch am selben Abend evakuiert werden, weil man eine Sprengung plante, um die Gefahr für die Bevölkerung durch einen möglichen Dammbruch des durch Erdrutsche entstandenen Abdämmsees zu bannen. Der Hubschrauber, der mich mitnahm, war die Verbindung zwischen dem Einsatzkommandeur und den Arbeitern. Wenn ich diese Gelegenheit nicht nutzte, würden mir die Informationen aus erster Hand über den Vorgang vermutlich für immer vorenthalten.
Zugegeben, ich fühlte mich bei der Ankunft am Hubschrauberlandeplatz nicht ganz wohl in meiner Haut. Aber gleich nach dem Aufstieg im Helikopter verflüchtigte sich meine Nervosität im Nu – nicht, weil ich so starke Nerven hätte, sondern weil der furchtbare Anblick des Katastrophengebiets dir den Sinn deiner Arbeit als Reporter wieder vor Augen führt. Die Filmaufnahmen zu unserer Reportage begannen schon während des Flugs.
Überall zerstörte Häuser und zerstörte Natur, jede Einzelheit vom dramatischen Erscheinungsbild des Gebiets machte die Erbarmungslosigkeit einer solchen Naturkatastrophe deutlich. Auf einer sich den Berg hinaufwindenden Straße stand ein Lastwagen, vor und hinter ihm war der Weg durch Geröll und Steine von einem Erdrutsch versperrt, nur der Lkw stand unversehrt zwischen diesen beiden Erdmassen. Wir fragten uns, wie es wohl dem Fahrer ergangen war, als er nach diesem vermeintlichen Glück im Unglück feststellen musste, dass es vor ihm nur Fels und hinter ihm nur Abhänge gab, wie sich sein Gefühl, gerade noch davongekommen zu sein, in Verzweiflung verwandelt haben musste. Wie war er da wieder herausgekommen?
Uns blieb keine Zeit, eine Antwort darauf zu finden. Der Helikopter landete, und ich hatte auf diesem beengten Flecken nur vierzig Minuten Zeit. Per Augenmaß schätzte ich die Breite des Ableitungskanals, mit der Nase konnte ich abschätzen, wie lange die wie verrückt arbeitenden Einsatzkräfte sich wohl nicht mehr gewaschen hatten, und mittels vieler Fragen machte ich mir ein Bild von der Gefahr und der Herausforderung, die vom Abdämmsee ausgingen. Und ich fasste die Situation in möglichst verständlichen Worten für unsere Zuschauer zusammen. Das war die erste Station des Wegs, der uns immer tiefer in das Zentrum der Katastrophe hineinführte.
Unbeschreibliche Zustände
Im Vergleich zur Arbeit im Studio kam bei der Arbeit vor Ort neben dem mentalen Stress noch die physische Erschöpfung hinzu. Wir kamen in der Regel nicht öfter als zweimal täglich dazu, etwas zu essen, einmal frühmorgens, bevor wir uns auf den Weg machten, und einmal, wenn wir die Recherchen des Tages abgeschlossen hatten, je nachdem, zwischen 16.00 und 20.00 Uhr. Wir wollten zum einen früher fertig werden und mehr Zeit für die Vorbereitung der Abendsendung haben, zum anderen brachte man bei dem unerträglichen Anblick, den die Orte boten, an denen wir O-Töne sammelten, keinen Bissen hinunter. Und eigens zum Essen woandershin zu fahren kostete bei der Situation dort viel zu viel Zeit, und es war auch nicht unbedingt immer etwas zu essen aufzutreiben. Einmal lud uns der Parteisekretär am provisorischen Sitz des Kreisparteikomitees ein, mit ihm eine Packung Fertignudeln zu essen. Das war für die Leute dort eine wertvolle Mahlzeit. Selbstverständlich lehnten wir die Einladung ab.
Aber das waren Nebensächlichkeiten. Schlimmer war das tägliche Wechselbad der Gefühle, so viel Elend ausgesetzt zu sein war manchmal unerträglich.
In der Sporthalle von Mianyang trafen wir auf ein Ehepaar um die sechzig, das mit seinem noch kein Jahr
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