Sind wir nun gluecklich
Fortschritte gemacht, aber lässt sie wirklich genügend Raum, damit sich systematisch Wohltätigkeitsorganisationen etablieren können?
Welcher Spender von Katastrophenhilfe kann sich anmaßen, den Bewohnern der Unglücksgebiete mit erhobenem Zeigefinger zu diktieren, was sie tun oder lassen sollen? Diese Menschen haben das Recht, ihr Leben nach eigenem Gutdünken fortzusetzen, selbst wenn die Art und Weise nicht jedem passt.
Auch wenn das Erdbeben von Sichuan schon länger zurückliegt als das von Yushu oder Zhouqu in der Provinz Gansu, werden Hilfe und Zuwendung noch für zehn Jahre oder länger benötigt werden. Werden wir uns darum kümmern?
Die Trümmer werden weniger werden, und überall entstehen neue Gebäude. Doch können wir auch helfen, die Wunden zu heilen, die die Herzen davongetragen haben? Allein mit dem Bau von Häusern ist die wichtigste Aufbauleistung nach der Katastrophe nicht getan.
Es gibt noch so viele Fragezeichen, die in unserer Gesellschaft fortleben wie ein Nachbeben. Wenn wir sie nicht beantworten, bleiben wir alle Katastrophenopfer. Leid kennt keine Vergangenheit.
10 In Tangshan in der Provinz Hebei ereignete sich am 28. Juli 1976 ein Erdbeben mit geschätzt 650 000 Todesopfern.
Kapitel 6 – Tränenreiche Geschichten
Sydney und Peking: Rein geografisch betrachtet, liegt die eine Stadt auf der südlichen, die andere auf der nördlichen Halbkugel. Eine gehört zu den großen Städten eines Kontinents, ohne Hauptstadt zu sein; die andere ist die Hauptstadt eines großen Landes. Mit dem Flugzeug ist man zehn Stunden von der einen in die andere unterwegs, und der Zeitunterschied beträgt drei Stunden. Ohne die Olympischen Spiele bestünde die einzige Verbindung zwischen den beiden Städten aus nicht mehr als vielen gelegentlichen Höflichkeitsbesuchen oder Veranstaltungen wegen der bestehenden Städtepartnerschaft. Dann vielleicht noch dem Tourismus in die eine wie die andere Richtung, und das wär’s. Die gemeinsame Erinnerung an die Olympischen Sommerspiele 2000 und 2008 aber hat die beiden Metropolen aufs engste miteinander verbunden, und diese Erinnerung ist etwas, wofür China zutiefst dankbar sein sollte.
Zuerst war 1993, als Peking um eine Stimme Sydney im Wettbewerb um den Austragungsort der Spiele unterlag. Dann, mit Beginn des zweiten Jahrtausends, setzten die Spiele von Sydney neue Maßstäbe, hängten die Messlatte für alle künftigen Spiele hoch, an der sie, wenn nicht von einem selbst, dann von anderen gemessen wurden. Und schließlich errang das Olympiateam Chinas in Sydney die nie zuvor erreichte Zahl von 28 Goldmedaillen, beinah doppelt so viele wie in beiden Vorgängerolympiaden zusammen, und legte damit den Grundstein zur erfolgreichen Wahl Pekings als Austragungsort ein Jahr später in Moskau. So wurde Australien, das einst unseren Stolz gekränkt hatte, auf wundersame Weise zu einem Märchenland für den chinesischen Sport. Geschichte hat nun einmal ihre eigene, unergründliche Logik. Hätten wir die Olympischen Spiele schon im Jahr 2000 in Peking ausgetragen, wäre das vielleicht auch nicht schlecht gewesen, aber einen Vorgeschmack darauf zu bekommen, was es heißt zu verlieren, war eine gute Gelegenheit, um an seinem Misserfolg zu wachsen. Davon abgesehen wäre die Stimmung in Peking 2000 wohl niemals so ungezwungen und ausgelassen gewesen, wie sie es acht Jahre später war, voller Selbstbewusstsein und Reife.
Manche Entscheidungen überlässt man besser der Geschichte, sie sagen zunächst nichts darüber aus, ob man das erste oder das zweite Los gezogen hat, und noch weniger über den Hass oder die Liebe für eine Stadt.
Die tränenreichen Geschichten, die sich in jener Sommernacht des Jahres 1993 abspielten, wurden selbst Geschichte, darüber wurde schon detailliert berichtet. Die neuen tränenreichen Geschichten nahmen an jenem Herbsttag im Jahr 2000 ihren Lauf.
Doping
Soweit ich mich erinnere, war es der 1. September 2000, auf jeden Fall war es ein unvergesslicher Tag. Am Morgen dieses Tages kam mein Sohn in den Kindergarten. Die ganze Familie brachte ihn hin, und ich filmte seinen ersten Tag mit dem Camcorder: Als er durch das Tor trat, drehte er sich um und weinte. Mir blieb keine Zeit, um einen tiefen Seufzer über diesen bezaubernden Moment seines Lebens auszustoßen: Ich begleitete meinen Sohn zu einem neuen Abschnitt seiner Biografie, und schon musste ich zum Airport hetzen, um meinen Flug nach Sydney zu erreichen, von wo aus ich live über die
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