Sinfonie des Todes
keine Dienstboten, keine Köchin, keine Zugehfrauen. Dies alles musste auf eine Dame wie Lina, die sich selbst noch für das polizeiliche Verhör schminkte, deprimierend wirken. Kein Wunder, wollte sie ihren spielsüchtigen Gatten am Gängelband halten.
»Nach dem Spiel – was passierte dann?«, wollte Cyprian wissen.
»Nun, wie gesagt: Ich ging arbeiten. Was die anderen getan haben, weiß ich natürlich nicht.«
Erstaunt blickte ihn Warnstedt an. »Sie gingen arbeiten? Nach Mitternacht?«
»Schauen Sie sich doch um«, entgegnete Leyser mit einer weit ausholenden Bewegung. »Hier geht es zu und her wie in einem Bienenstock. Das liegt am Repertoiresystem. Pro Saison werden abwechselnd mindestens 30 Stücke gespielt, manchmal sogar bis zu 100. Sie können sich vorstellen, dass wir hier rund um die Uhr schuften. Kaum ist eine Vorstellung zu Ende, werden die Kulissen abgebaut und durch andere ersetzt.«
»Sie mögen die impertinente Frage entschuldigen: Aber sind Sie in der Lage, einen Zeugen aufzurufen, der mir bestätigt, dass Sie in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag hier tätig waren?«
Kurt Leyser lachte auf. »Einen wollen Sie? Wie wäre es mit zwei Dutzend?«
Angenehm überrascht meinte der Inspektor: »Wissen Sie was, Herr Leyser? Sie suchen sich fünf Leute aus, die das später zu Protokoll geben werden, und ich schicke einen meiner Assistenten her. Und vergessen Sie nicht, ihnen einen auszugeben! Denn ab sofort sind Sie von der Liste der Verdächtigen gestrichen.«
»Das freut mich zu hören«, meinte der Requisiteur. »War das alles? Sie müssen verzeihen, aber ich muss die restlichen Bolzen noch säubern. Sonst werde ich nie mehr fertig und der ›Freischütz‹ fällt ins Wasser.«
Cyprian von Warnstedt reichte ihm freundschaftlich die Hand. »In diesem Falle Waidmannsheil«, verkündete er heiter, bevor er sich zum Gehen wandte.
Als der Inspektor wieder auf der Ringstraße stand und unter den Ästen eines Baumes Schutz vor dem inzwischen stärker gewordenen Regen suchte, vernahm er die marktschreierischen Rufe eines Zeitungsjungen. Die ersten Abendblätter waren erschienen. Warnstedt winkte den Burschen zu sich. Kurz darauf hatten mehrere Zeitungen und ein Dutzend Kronen den Besitzer gewechselt. Mit den noch nach frischer Druckerschwärze riechenden Papierbündeln unter dem Arm eilte Cyprian zum nächsten Fiaker. Den Weg in die Gendarmerie wollte er durch das Studium der letzten Meldungen abwechslungsreicher gestalten.
»Verdammt!«, entfuhr es ihm unbeherrscht, als sein Blick über die ersten Zeilen geflogen war.
Die Zeitungen und Magazine überschlugen sich mit nach Sensationen heischenden Nachrichten. Offenbar hatte Oberkommissar Camillo Windt mittlerweile die Presse informiert, denn der Mordfall Fichtner war jetzt in aller Munde, und allein das Vorhandensein solch unschöner Berichte erinnerte den Inspektor an einen Alpdruck. Wie konnten die Leute sich an all den Schmierereien ergötzen? Die Spalten waren angefüllt mit Kolportage und Klatsch, mehr Vermutungen als Fakten, und der Inspektor sah den Sektionsrat Robert Fichtner ein ums andere Mal als Hauptverdächtigen dargestellt. ›Unsere ansonsten so geschätzten Beamten haben es bisher sträflich vernachlässigt, im eigenen Revier zu wildern. Fehlt einfach der Mut dazu, einen ehemaligen Kollegen zu belasten, oder sind die Gründe für die polizeiliche Zurückhaltung vielleicht privater, sprich: freundschaftlicher Natur?‹, las Warnstedt im Wiener Abendblatt.
Und an einer anderen Stelle im Mariahilfer Abendboten: ›Der Schreiber dieser Zeilen kommt nicht umhin, seinem Erstaunen Ausdruck zu verleihen, dass der Sektionsrat noch auf freiem Fuß ist.‹
Als der Inspektor das Hauptgebäude der k. k. Gendarmerie Wien bereits erreicht und sein Büro längst betreten hatte, schäumte er noch immer vor Wut. Einem Schwindsüchtigen so übel mitzuspielen, war nicht sehr chevaleresk. Diese Schmocks waren nur auf billige Effekte aus. Wie kamen diese Schreiberlinge dazu, sich auf eine bestimmte Person einzuschießen? Andererseits musste sich Cyprian eingestehen, dass auch er allmählich den Sektionsrat zum Kreis der Verdächtigen zählte.
14. Kapitel
Gustav setzte sich an den Tisch im Zimmer, das er mit seiner Mutter bewohnte, und öffnete die Schublade, die sich unter der Holzplatte befand und in der er Rechnungen und sonstige offizielle Dokumente aufbewahrte. Unter all den Papieren befand sich auch eine unbeholfene Zeichnung, die Lina
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