Sinfonie des Todes
nicht nur das: Sie hatte ihn aufs Schlimmste gedemütigt. Seine Mutter hatte recht gehabt. Keines dieser Weiber war es wert, ein Teil von ihm zu sein. Nicht einmal sie. Gerade sie nicht.
Das Brennen in ihm verstärkte sich und verdichtete sich zu einem Gefühl, das er nur allzu gut kannte: Hass. So viele Jahre hatte er stillgehalten und alles ertragen, was man ihm angetan hatte. So viele Stunden der Verzweiflung und der Angst hatte er durchgestanden, ohne aufzumucken, ohne sich zu wehren. Diese Zeiten sollten nun vorbei sein, das schwor er sich.
Er sah Maria vor sich, ihr zerschundenes Gesicht, ihren toten, regungslosen Körper, und plötzlich wurde er von einem Weinkrampf geschüttelt, der ihn in die Knie zwang. Wofür hatte sie sterben müssen? Für Lina, die ihn wie ein Nichts behandelte, wie einen kleinen, wertlosen Zwerg ohne Gefühle? Die sich mit anderen Männern vergnügte, während er in seiner Kammer ihr kaltes Bild küsste, den röchelnden Atem der Mutter in den Ohren?
Gerechtigkeit musste geübt werden. Und zwar bald, das spürte Gustav. Er erhob sich mühsam und fühlte, wie die Kälte in seine Knochen geschlichen war. Sein Körper schmerzte, die Wange pochte. Ohne auf seine Umgebung zu achten, machte er sich auf den Heimweg, während sein Kopf von einem einzigen Wort beherrscht wurde: Sühne.
Gustav legte sich für einige Stunden neben seine Mutter ins Bett, ohne einzuschlafen. Die Hände auf dem Bauch gefaltet, lauschte er auf die Geräusche im Mietshaus und versuchte, die Dunkelheit mit den Blicken zu durchbohren.
Irgendwann in der Nacht, als es bereits auf drei Uhr zugehen mochte, trieb ihn nagender Hunger auf leisen Sohlen, damit seine Untermieter nicht aufwachten, in die Küche. Als er das Licht auf dem Tisch entzündet hatte, suchte er nach etwas Essbarem und fand ein Stück Emmentaler, das auf der Anrichte lag, und einen Laib Brot. Gierig biss er in den Käse und öffnete gleichzeitig die Besteckschublade, um das Brotmesser herauszunehmen. Doch bevor er es ergreifen konnte, wurde seine Aufmerksamkeit von den anderen, den schärferen und spitzeren Esswerkzeugen in Bann gezogen. Das Hungergefühl war plötzlich verflogen, seine Gedanken schweiften zu Maria, zu der einzigen Frau, die ihm jemals echte Wärme gegeben hatte und die für ein Weib hatte sterben müssen, das ihn verschmähte. Er nahm eines der Messer heraus und wog es in der Hand.
Gustav wusste, was er zu tun hatte.
Innerlich ruhig und gefasst, bückte er sich und kramte im Kästchen unter dem Schüttstein nach einer Papiertüte, zog sie hervor und ließ das Messer hineingleiten. Ohne weiter zu zögern, zog er die Schuhe an, griff nach dem Mantel, steckte den Beutel in eine der tiefen Taschen und verließ entschlossen die Wohnung.
Die Straße, von wenigen Laternen erhellt, war menschenleer. Die Flocken des ersten dichten Schneegestöbers des Jahres verfingen sich in den Haaren des Unglücklichen und schmolzen auf der heißen Haut, in die das Fieber gekrochen war.
Ein irres Lächeln verzerrte das durch die Kratzer entstellte Gesicht von Gustav Wissel, als er geduckt durch die Gassen huschte.
25. Kapitel
Cyprian von Warnstedt war in einer vierrädrigen Kalesche angekommen, die zweispännig gefahren wurde, und hielt nun dem Sektionsrat den Verschlag auf. Als Robert Fichtners Gesicht im Rahmen auftauchte, besaß es für einmal nicht mehr den abgezehrten Ausdruck, den Cyprian so erschreckend fand, sondern war erstaunlich frisch und rosenwangig.
»Setz dich.« Er deutete auf den Platz gegenüber.
Rüttelnd kam der Wagen in Bewegung.
»Der Kutscher weiß den Weg«, erklärte der Inspektor leichthin.
Fichtner machte seinen Schal zurecht, indem er ihn ein weiteres Mal um den Hals schlang und am Adamsapfel zu einem dicken Knoten zusammenband.
»Neuigkeiten von dem anonymen Schreiber?«, grummelte er.
Der Gendarm schüttelte den Kopf. »Nein, leider nicht. Kurz vor der Abfahrt habe ich noch einmal mit Laffert gesprochen. Er vermeint zu wissen, dass es eine Frau war, die den Text geschrieben hat.«
»Aber nicht Lina«, stellte Fichtner fest.
»Richtig, nicht Lina. Trotz einiger Übereinstimmungen.«
Tief in Gedanken wandte sich Robert ab und blickte aus dem Fenster. Die Straßen von Wien zogen an ihm vorüber, dunkle, trübe Novemberstraßen. Der Himmel war bedeckt, bisweilen tanzten die ersten Schneeflocken durch die Luft. Eine eisige Kälte hatte sich der Stadt bemächtigt und hielt sie fest in ihrem Griff.
Kurz bevor
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