Sinnliche Versuchung in Italien
Signorina Marsh noch keine Rede gewesen. Das hieß, sie musste erst seit Kurzem für Guilio arbeiten, aber schon sein volles Vertrauen gewonnen haben. Und genau das bereitete Lucca Kopfschmerzen, denn ausgerechnet sie wusste mehr über ihn, als ihm lieb war. Daran ließ sich leider nichts mehr ändern, und im Übrigen hatte er sich selbst die Schuld dafür zuzuschreiben. Er hätte nicht einfach herkommen dürfen und erst recht nicht mitten in der Nacht.
Er schloss die Küchentür, ging zum Kühlschrank und sah nach, womit er sich ein Sandwich zubereiten konnte. In diesem Moment hörte er ein Auto kommen, dann Stimmen, Türen schlagen und den Wagen wieder abfahren.
Nachdem er sich ein Brot mit Schinken und Käse gemacht hatte, ließ er sich auf einen Stuhl sinken, streckte die Beine aus und versuchte vergeblich, eine angenehme Sitzposition einzunehmen. Einem Gespräch mit seinem Vater fühlte er sich zurzeit nicht gewachsen. Guilio würde sich, wenn er ihn derart mitgenommen wiedersah, große Sorgen um ihn machen und wissen wollen, wann und warum der Unfall passiert war und wie die Aussicht auf völlige Heilung war, und ihm Vorwürfe machen, dass er ihn nicht längst benachrichtigt hatte. Doch Lucca wollte weder Fragen beantworten noch sich rechtfertigen. Er brauchte vielmehr Ruhe und Abstand von dem, was geschehen war. Er müsse verarbeiten, was er nicht vergessen könne, hatte ihm der Therapeut in der Klinik erklärt. Das war jedoch leichter gesagt als getan.
Weil die Tabletten inzwischen wirkten, spürte er leider auch ihre Nebenwirkungen. Er wurde müde und war nicht mehr in der Lage, klar zu denken. Es half nichts, er war gezwungen, sich wieder hinzulegen und noch einige Stunden zu schlafen. Doch richtig entspannen würde ihn das nicht. Ob Signorina Marsh ihn verriet oder nicht, er fühlte sich in seinem eigenen Haus nicht mehr wohl.
Vielleicht rufe ich Guilio nachher an, wenn es mir besser geht, überlegte er noch.
Perfekt frisiert und geschminkt verließ Annabelle den Bus, der als Garderobe diente.
„Großartig! So habe ich mir das vorgestellt. Sie sehen einfach bezaubernd aus.“
Annabelle fand Giovannis Begeisterungsausbrüche ein bisschen übertrieben, doch offenbar wollte der Fotograf ihr Mut und Selbstvertrauen für das Shooting geben.
„Frisch und jung wie eine Blume.“
Sie lachte. Gegen diesen Vergleich hatte sie nichts einzuwenden, zumal ihr dadurch in Erinnerung gerufen wurde, wie herrlich es gewesen war, schon vor der Arbeit Margeriten zu pflücken. Doch an den Mann, der in der Küche gesessen hatte, wollte sie lieber nicht denken.
Mit dem, was sein Vater ihr über ihn erzählt hatte, stimmte die Wirklichkeit nicht im Mindesten überein. Einen starken, strahlenden Helden hatte sie sich anders vorgestellt. War dieses Bild, das Guilio von ihm malte, nur dem Wunschtraum eines liebenden Vaters entsprungen? Oder setzten Schmerzen, Kummer und Leid seinem Sohn so zu, dass selbst sein Vater ihn nicht wiedererkennen würde? Irgendwie verstand sie, dass er sich in dieser Verfassung niemandem zeigen wollte. Doch ihr Versprechen, Guilio seine Heimkehr zu verschweigen, brachte sie in Konflikte.
„Annabelle?“
Sie blickte auf. „Ja?“
Basilio, der Aufnahmeleiter, der sie morgens auch abgeholt hatte, wollte ihr erklären, was sie zu tun hatte.
„Wir möchten, dass Sie sich ans Steuer des Wagens dort drüben setzen und sich zum Beifahrersitz hinüberbeugen. Legen Sie dabei Ihren Arm auf die Rücklehne. Stellen Sie sich vor, dass Sie einfach nur aus reiner Freude ziellos umhergefahren sind, dabei eine besonders schöne Bucht entdeckt und das Auto an den Straßenrand manövriert haben, um in Ruhe die Aussicht zu genießen. Versuchen Sie, sich so natürlich wie möglich zu geben, und vergessen Sie die Kamera.“
Das war leicht gesagt. Für Annabelle war es jedoch ein abenteuerliches Unterfangen. Als sie in das schwarze Amalfi – Cabriolet glitt, kam sie sich vor wie ein Girl aus einem James-Bond-Film. Von dem schwarzen nach Leder duftenden Sitz würde ihre weiße Kleidung sich hervorragend abheben. Marcella hatte sie ihr schon am Vorabend mitgegeben.
Was die Innenausstattung anging, so wusste Annabelle nicht, welche sie lieber mochte. Die mit den schwarzen oder die mit den perlgrauen Sitzen des weißen Cabriolets, in dem sie in Rom vor dem Jet posiert hatte. Im Vergleich zur Geschwindigkeit eines Flugzeugs war natürlich auch der schnellste Sportwagen gar nichts. Aber vielleicht würde es Lucca
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