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Sintflut (German Edition)

Sintflut (German Edition)

Titel: Sintflut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gina Schulze
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und Kerzen erhellt. Ganz vorne steht eine Kanzel auf einem Mast, der die Form eines Schiffsausgucks hat. Daneben befindet sich ein Altar. Seine Oberfläche besteht aus einer runden Steinplatte, die wie eine flache Schüssel aussieht.
    In der Schüssel ist einiges aufgebaut: Zwei Männer sitzen am Ufer eines schilfbestandenen Sees. Das Schilf ist aus frischem Grün, der See ist eine Wasserpfütze. In den See führt ein Steg aus Weidengeflecht, daran ist ein Ruderboot vertäut, das aus Baumrinde geschnitzt ist.
    Die beiden Männer sind der Denker und sein Freund. Hinter ihnen steht eine strohgedeckte Lehmhütte, vor der ein Hund liegt. Auf dem Feld daneben weiden vier Ziegen. Eine Frau sitzt an die Hauswand gelehnt und ruht sich einen Moment aus. Gleich wird sie den Mörser, der neben ihr liegt, wieder zur Hand nehmen und Getreidekörner zerstoßen. Alle Figuren sind aus schwarzem, poliertem Ton.
    »Das ist das erste Bild«, beginnt Leo. »Ein Mann und sein bester Freund am Ufer des großen Sees, an dem schon ihre Vorfahren gelebt haben. Etwas Außergewöhnliches geschieht. Seit Wochen schon steigt der See. Er steigt zwar jedes Jahr, aber nur in der Regenzeit. Dieses Jahr ist alles anders. Der Regen ist ausgeblieben, aber der See steigt trotzdem. Die beiden Männer machen sich Sorgen. Was sollen sie tun? Der eine hält sich die Hand ans Ohr. Er lauscht auf das ferne Rauschen, das vom ersten Tag an das Steigen des Sees begleitet hat.«
    »Ist das so eine Art Krippenspiel?«, frage ich.
    »Ja und nein. Das Krippenspiel hat nur eine Szene, wir haben viele. Bei euch geht es um Jesus, bei uns um die Sintflut. Ihr feiert Christi Geburt, wir feiern das Geschenk des Lebens. Jedes Jahr nach den Herbstgewittern und den Frühjahrsstürmen. Die restliche Zeit bleibt das Spiel in einer Kiste. Für Paula hatten wir eine andere Szene aufgebaut. Dabei läuft Wasser in die Schale, bis sie überläuft. Viele ertrinken, einige schwimmen wie die Fische und entsteigen dem Grauen mit heiler Haut.«
    »Die Fischmenschen, davon habe ich schon gehört. Aber wozu dann noch die Arche Noah?«
    »Die Arche Noah ist nur ein Symbol für das Überleben. In Wirklichkeit entkamen mehr Menschen der Sintflut als nur Noah und seine Familie. Sie erkannten die drohende Gefahr, reagierten rechtzeitig und machten sich auf dem Landweg davon. Davon handelt das letzte Bild des Spiels. Die Überlebenden stehen am Rand der Schale. Sie danken Gott. Der See hat Siedlungen, Dörfer und Städte unter sich begraben, aber einiges konnte gerettet werden. Dann ziehen die Menschen in alle Himmelsrichtungen davon. Unter den Flüchtlingen sind die Hamangia-Leute, die sich an der Donau ansiedeln und die große Flut in einem Figurenspiel verewigen.«
    Die Geschichte der Sintflut, von den Zeitgenossen der Katastrophe szenisch festgehalten und seit über 7000 Jahren immer wieder neu erzählt. »Das also ist das achte Weltwunder«, sage ich und kriege eine Gänsehaut.
    »Ja, aber es ist nur ein Spiel. Die Spielfiguren, die du hier siehst, sind nicht älter als 100 oder höchstens 200 Jahre, nur die Idee ist so alt wie die Sintflut. Ich nehme an, alle werden enttäuscht sein, wenn sie merken, was Paula wirklich entdeckt hat, nämlich das Spiel und die Arche Noah.«
    Das glaube ich allerdings auch. Kein Gold, keine Edelsteine, keine geheimnisvollen alten Schriftrollen, keine Skelette von Wächtern, die als junge Männer bei lebendigem Leib begraben wurden, um den Schatz zu bewachen. Nur zwei Tote in der Gegenwart, gestorben für nichts und wieder nichts. Enttäuschung ist da noch vorsichtig ausgedrückt.
     
    Die Sintflut als Spiel und noch nicht mal besonders alt – das ist kaum die Story des Jahrhunderts, hinter der man wochenlang her ist. Paulas Fund wird zwar die Geschichte der Steinzeit neu schreiben, aber wen interessiert das schon. In Zeitungen wie Come on oder Open End ist so etwas doch höchstens eine Randnotiz wert. Ganz nett, aber viel zu kompliziert. In den Redaktionen wird ein großes Geschrei ausbrechen, weil sie zu hoch gepokert und zu viel verloren haben. Ich denke da nur mal an die zehn doppelseitigen Goldschmuck-Anzeigen, um die Gertrud Almer solche Angst hatte. Überall werden ähnliche Deals gelaufen sein: Goldschmuckwerbung im redaktionellen Umfeld einer sensationellen Schatzsuchergeschichte. Wie sind die nur alle drauf gekommen, hier sei ein Schatz vergraben, der demnächst gehoben wird? Paula hat nichts verlauten lassen. Alles beruht auf Gerüchten, deren

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