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Sintflut (German Edition)

Sintflut (German Edition)

Titel: Sintflut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gina Schulze
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Quelle niemand kennt und die zur tödlichen Gefahr geworden ist.
    »Warum denken alle, es gäbe hier einen Schatz?«, will ich wissen.
    »Ja, das denken sie wohl«, meint Leo zugeknöpft.
    Erneut fällt mir Birguls Datei ein. Jemand war hier, als die Birke neben dem Schiff noch klein war. Jemand, den Leo wahrscheinlich nicht kennt, weil er zu der Zeit in Deutschland lebte. Und dieser Jemand ist so wenig per Zufall hier gewesen wie Paula oder ich. So, wie die Arche Noah hinter einer Mauer und einem Ring aus Bäumen versteckt liegt, ist sie nur auffindbar, wenn man hingeführt wird. Und noch etwas: Dieser Jemand hat alles gesehen, aber 20 Jahre geschwiegen. Dafür gibt es mit Sicherheit einen Grund. Verstohlen betrachte ich Leo von der Seite. Er scheint mir glaubwürdig, auch wenn er meiner Frage ausgewichen ist. Hin und her gerissen zwischen Vertrauen und Verdacht, sage ich ihm nichts von der Datei. Ich will zuerst mit Paula darüber sprechen.
    Wenige Minuten später stehen wir vor Leos hell erleuchtetem Haus. Die anderen Gäste sind schon da, das Essen steht auf dem Tisch, wir nehmen Platz. Mir gegenüber sitzen Paula und Akan, am Kopfende Maria, Leos Frau. Der Gast am anderen Ende des Tisches heißt Flavio. Er ist Künstler und modelliert alle Figuren, die für die Inszenierung der Sintflut-Saga gebraucht werden. Der Denker zum Beispiel ist zerbrochen, als Maria letzten Herbst die Figuren auspackte, Flavio sorgte für Ersatz. Seine Kopien sehen dem Original so ähnlich, selbst Fachleute haben Schwierigkeiten, einen Unterschied zu sehen, sagt Leo stolz. Nur wenn man die Figur herumdreht, wisse man Bescheid, denn alle seine Figuren sind gestempelt. Auf der Unterseite stehe Made in Romania und ein F für Flavio.
    Wenn er nicht mit der Reparatur oder der Neuanfertigung von Figuren befasst ist, bastelt Flavio Objekte aus Weidenzweigen, beschmiert sie mit Lehm, steckt ein paar Vogelfedern zwischen die Ritzen und verkauft das Ganze in Deutschland, wo er einmal im Jahr hinfährt. Auch Flavio spricht Deutsch, wenn auch mit einem Akzent.
    Wir reden eine Weile über das Figurenspiel. Dann fragt Paula in die Runde, wie das Gerücht von dem Schatz, den sie entdeckt haben soll, eigentlich entstanden sein könnte. Maria steht auf und räumt klappernd ein paar Teller zusammen.
    »Altweibergewäsch«, sagt Leo in den Lärm hinein. Er macht ein paar bissige Bemerkungen über den Sensationsjournalismus und beendet den Abend, indem er gähnt, ebenfalls vom Tisch aufsteht und uns erzählt, wie früh Maria und er normalerweise ins Bett gehen.
     

19
    Am nächsten Tag muss Paula wegen ihres Knies zum Arzt. Akan fährt sie hin. Als die beiden aufbrechen, ist gerade die Sonne aufgegangen.
    »Wir werden erst spät zurück sein. Geh nirgends hin, Marlene. Ruh’ dich einfach aus«, sind Paulas Abschiedsworte.
    Ich gehe ins Haus zurück. In der Küche steht noch Kaffee und ich setze mich an den blank gescheuerten Holztisch, der von der frühen Morgensonne beschienen wird. Die Küche ist klein und einfach eingerichtet. Es gibt ein Waschbecken, ein Regal mit etwas Geschirr und eine kleine Kochplatte. Im Grunde alles, was man braucht.
    Ich schaue aus dem Fenster und stelle mir vor, wie eine Geschichte mit Hilfe einiger Figuren seit Jahrtausenden immer wieder erzählt und für die Nachwelt erhalten wird. Trotz Erfindung der Schrift und im letzten Winkel der Welt. Die Figuren sind keine Götter und noch nicht einmal Idole. Sie verkörpern von Beginn an konkrete Menschen, Ereignisse und Taten. Hans Dietzendorf hatte recht.
    Weil ich mich einsam fühle, schalte ich das Notebook ein. Keine Nachricht von Max, aber eine von Jutta Bandelow und eine von Birgul. Bevor ich dazu komme, sie zu lesen, sehe ich jemand das Hoftor öffnen und auf das Haus zugehen. Es ist Flavio, der Künstler. Er klopft an die Tür, ich mache auf.
    »Hallo, wie geht’s?«, fragt er und tritt unaufgefordert ein. Jetzt stehen wir im Flur herum, aber ich habe keine Lust, ihn in die Küche zu bitten.
    »Danke, gut. Akan und Paula sind zum Arzt gefahren.«
    »Ich weiß. Unmöglich, hier im Dorf etwas geheimzuhalten. Werdet ihr denn bald abreisen können?«
    Abreisen? Davon hat Paula nichts gesagt. Flavio schaut mich mit seinen braunen Augen abwartend an. Für einen Künstler sieht er recht sportlich aus: groß, durchtrainiert, schlank, gerade Haltung. Er trägt einen gelben Overall, in dem er wie ein Servicetechniker wirkt. In gewissem Sinn ist er das ja auch.
    »Keine Ahnung, wann

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