Sinuhe der Ägypter
jedoch ist schlicht, und sie ziehen ihre Gürtel eng; denn sie sind stolz auf ihre schmalen Hüften und breiten Schultern. Ihre Köpfe sind klein und schön, ihre Glieder und Handgelenke zierlich, und wie Frauen dulden sie keinen Flaum am Körper. Nur wenige unter ihnen sind fremder Sprachen mächtig; denn sie fühlen sich im eigenen Lande wohl und haben keine Sehnsucht nach der Fremde, die ihnen nicht die gleichen Bequemlichkeiten und Freuden zu bieten vermag wie ihre eigene Heimat. Obgleich sie ihren ganzen Reichtum mit Handel und Schiffahrt verdienen, traf ich Leute, die sich weigerten, jemals den Hafen zu besuchen, weil sie dessen üble Gerüche verabscheuten, und die auch des allereinfachsten Rechnens unkundig waren und sich daher völlig auf ihre Verwalter verließen. Deshalb können sich geschickte Ausländer auf Kreta rasch bereichern, falls sie sich damit abfinden, im Hafenviertel zu wohnen.
Sie haben aber auch Spielwerke, die Musik erzeugen, ohne daß ein Spielmann im Hause zu sein braucht, und sie behaupten, Musik aufzeichnen zu können, so daß man ein Stück, ohne es vorher gehört zu haben, nach ihrer Schrift zu spielen vermöge. Auch die Spielleute Babylons behaupteten dies, und ich will gewiß weder ihnen noch den Kretern widersprechen, da ich selbst nichts von Musik verstehe und mein Ohr durch die Instrumente verschiedener Länder nur verwirrt worden ist. Aber bei alldem verstehe ich doch, warum man anderswo in der Welt die Redeweise gebraucht: »Er lügt wie ein Kreter.«
Man sieht bei ihnen auch keine Tempel, noch machen sie viel Wesens von ihren Göttern: sie begnügen sich mit dem Dienst an ihren Stieren. Diesem kommen sie mit um so größerem Eifer nach, und es vergeht kaum ein Tag, an dem man sie nicht auf dem Zuschauerplatz des Stierfeldes antrifft. Allerdings glaube ich, daß dies weniger aus Ehrfurcht vor den Göttern geschieht als wegen der Spannung und des Vergnügens, die der Tanz vor Stieren den Zuschauern bereiten.
Ich kann auch nicht behaupten, daß sie große Ehrfurcht vor ihrem König hegen; denn dieser gilt als ihresgleichen, wenn er auch einen Palast bewohnt, der die stattlichsten Häuser um ein Vielfaches übertrifft. Sie verkehren mit ihm wie mit ihresgleichen, scherzen und erzählen ihm Geschichten, kommen zu seinen Gastmählern, wann es ihnen paßt, und entfernen sich nach Belieben, wenn sie sich langweilen oder etwas anderes vorhaben. Sie genießen den Wein mit Mäßigung, um sich zu erheitern; bei aller Freiheit ihrer Sitten betrinken sie sich nie, weil sie dies für barbarisch halten, und ich habe nie gesehen, daß sich jemand bei ihren Gelagen wegen zu vielen Trinkens erbrochen hätte, wie das in Ägypten und anderen Ländern oft vorkommt. Hingegen entbrennen sie von Liebe zueinander, ohne danach zu fragen, wer wessen Mann oder Frau ist, und geben sich miteinander der Wollust hin, wann und wo es ihnen einfällt. Die Jünglinge, die vor den Stieren tanzen, stehen bei den Frauen hoch in Gunst, weshalb viele vornehme Männer sich im Stiertanz üben, obgleich sie nicht geweiht sind. Sie tun es zu ihrem Vergnügen und erreichen oft dieselbe Fertigkeit darin wie die dem Gott geweihten Jünglinge, die sich von den Frauen fernhalten müssen, wie auch die geweihten Jungfrauen keinem Manne nahekommen dürfen. Womit das zusammenhängt, verstehe ich allerdings nicht; denn nach ihren Sitten zu urteilen, würde man nicht erwarten, daß sie dieser Sache ein so großes Gewicht beimessen.
Dies alles erzähle ich als Beweis dafür, daß ich mich oft über die Sitten Kretas gewundert, ehe ich mich an sie gewöhnte, soweit mir das überhaupt möglich war; denn die Kreter machen sich eine Ehre daraus, immer neue Überraschungen auszudenken, so daß man nie im voraus ahnt, was im nächsten Augenblick geschieht. Aber ich will ja von Minea erzählen, obgleich mir das Herz dabei schwer wird.
Im Hafen angelangt, kehrten wir in der Fremdenherberge ein. Diese war in bezug auf Behaglichkeit die luxuriöseste aller Gaststätten, die ich je gesehen. Sie war auch nicht besonders groß; so wirkte neben ihr »Ischtars Freudenherberge« in Babylon mit all ihrer verstaubten Pracht und ihren einfältigen Sklaven barbarisch. Hier wuschen wir uns und kleideten uns an, und Minea ließ sich das Haar aufstecken und kaufte sich neue Gewänder, um sich ihren Freunden zeigen zu können. Ich war erstaunt, als ich sie erblickte; denn sie trug einen kleinen Hut, der wie eine Lampe aussah, und unbequeme Schuhe mit
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