Sinuhe der Ägypter
bringt, sondern daß ihre Süße von kurzer Dauer ist und sie sich gegen den Rächer selbst wendet und ihm das Herz wie Feuer versengt.
Nachdem ich nun das alles berichtet habe, will ich erzählen, was sich in Ägypten und Syrien zutrug, während Pharao Echnaton in seiner Stadt Achetaton lebte. Auch von Haremhab, Kaptah und von meinem Freund Thotmes will ich erzählen, und dabei Merit nicht vergessen: deshalb beginne ich ein neues Buch zu schreiben.
Elftes Buch
MERIT
1
Jedermann weiß, wie das Wasser aus einer Wasseruhr rinnt. Auf die gleiche Weise verrinnt die Zeit des Menschen, nur daß seine Zeit nicht mit einer Wasseruhr, sondern an den ihm widerfahrenden Ereignissen gemessen werden kann. Das ist eine große, erhabene Wahrheit, die der Mensch erst in seinen alten Tagen einsieht, wenn seine Zeit in nichts zerfließt und er nichts mehr erlebt, selbst wenn er sich einbildet, viel zu erleben, um erst nachträglich seinen Irrtum zu bemerken. Wenn ein Mensch viel erlebt und sein Herz sich wandelt und neu gestaltet, kann ihm ein einziger Tag länger erscheinen als ein oder zwei Jahre schlichten, arbeitsamen Lebens ohne persönliche Veränderungen. In der Stadt Achetaton lernte ich diese Wahrheit einsehen; denn meine Zeit zerfloß wie der Lauf eines Stromes. Mein Leben glich einem kurzen Traum oder einem verklingenden schönen Lied, und die zehn Jahre, die ich im Schatten Echnatons in seinem goldenen Haus zu Achetaton verbrachte, schienen mir kürzer zu sein als ein einziges meiner Jugendjahre, weil diese von Reisen und ereignisreichen Tagen, die länger als ein Jahr zu dauern schienen, angefüllt gewesen waren.
Auch konnte ich zu jener Zeit meine Kenntnisse und Fähigkeiten nicht erweitern, sondern zehrte an den Erfahrungen, die ich in meinen Jugendtagen in vielen Ländern gesammelt hatte, wie eine Biene im Winter den zur Blütezeit in Waben gesammelten Honig verbraucht. Aber vielleicht nagte die Zeit doch an meinem Herzen, wie ein langsam fließendes Wasser den Stein abschleift. Vielleicht wandelte sich auch mein Herz in dieser Zeit, obwohl ich es nicht bemerkte, weil ich nicht mehr so einsam war wie zuvor. Vielleicht war ich auch schweigsamer und weniger eingebildet auf mich und meine Kunst als früher. Dies war jedoch nicht mein Verdienst, sondern hing damit zusammen, daß Kaptah nicht mehr bei mir, sondern in meinem Hause im fernen Theben wohnte, wo er mein Eigentum verwaltete, meine Vorteile wahrte und seine Weinschenke, die den Namen »Zum Krokodilschwanz« trug, überwachte.
Auch muß ich hervorheben, daß die Stadt Achetaton sich sozusagen in sich selbst und in die Träume und Gesichte des Pharao Echnaton zurückzog, weshalb die Außenwelt für sie bedeutungslos blieb und alles, was sich außerhalb der Grenzsteine Atons abspielte, in Achetaton ebenso fern und unwirklich schien wie Mondschein auf dem Wasser. Die Geschehnisse in der Stadt selbst waren das einzig Wirkliche. Bei nachträglicher Überlegung muß jedoch zugegeben werden, daß das alles vielleicht ein Irrtum war und die Stadt Achetaton und alles, was sich dort zutrug, vielleicht nur Schatten und schöne Äußerlichkeit bedeuteten, während der Hunger, das Leiden und der Tod außerhalb ihrer Marksteine Wirklichkeit waren. Denn alles dem Pharao Echnaton Mißliebige wurde vor diesem verborgengehalten. Wenn irgendeine Angelegenheit unausweichlich seinen Beschluß erforderte, wurde sie in weiche Schleier eingehüllt und mit Honig und duftenden Gewürzen durchsetzt, um ihm dann mit äußerster Behutsamkeit vorgebracht zu werden, damit sein Kopf nicht krank davon werde.
Zu jener Zeit herrschte der Priester Eje in Theben als Träger des Krummstabes zur Rechten des Königs. Theben war in der Tat immer noch die Hauptstadt der beiden Reiche. Denn der Pharao hatte dort alle langweiligen und unangenehmen Teile des Regierungsbetriebs, wie Steuererhebung, Handel und Rechtspflege, zurückgelassen und wollte nichts von solchen Dingen hören, sondern verließ sich völlig auf seinen Schwiegervater Eje, der Nofretetes Vater und ein herrschsüchtiger Mann war. So war der Priester Eje der eigentliche Beherrscher der beiden Reiche. Alles, was das Leben eines gewöhnlichen Menschen, sei es eines Bauern oder Städters, betraf, lag in seinen Händen. Nachdem Ammon gestürzt war, gab es keinen Nebenbuhler mehr, der die Macht des Pharao, die in Wirklichkeit die Macht Ejes war, beschränkt hätte; und Eje war es zufrieden. Denn er hoffte, daß die Aufregung um Ammon
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