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Sir Darrens Begräbnis - Magie - Engel, Gift, Diebe

Sir Darrens Begräbnis - Magie - Engel, Gift, Diebe

Titel: Sir Darrens Begräbnis - Magie - Engel, Gift, Diebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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die Oberhand. Wenn Don Quichote schon Windmühlenflügeln unterlag, wie sollte eine schwache, mittellose Frau wie sie dann dem Hurrikan aus grellen Farben und grotesken Formen Herr werden, den ihre Kinder täglich aufs Neue entfachten? Gegen Windmühlenflügel hätte sie den Kampf vielleicht aufgenommen, aber was, wenn jeder der drei Flügel bei jeder Umdrehung, die das Rad machte, Wachslinien, Ölspuren und Tintenkleckse versprühte?
    Frau Kapf dachte an den spritzenden Penis zwischen Herrn Kaisers Augenbrauen und versuchte sich ihn in Rotation vorzustellen.
    Es war ein schauderhafter Gedanke, aber er beschrieb ihre Lage ziemlich gut.
    Bislang hatten sich ihre Bälger weitgehend darauf beschränkt, ihre Windmühlenflügel im Inneren der engen Altbauwohnung wirbeln zu lassen. Zwar schmierten sie auch mal draußen was an die Mauern, doch hatten sie sich dafür schon so oft schmerzhafte Abreibungen von den Nachbarn eingehandelt, dass sie es sich weitgehend verkniffen. In einer Umgebung wie dieser glaubten nicht alle Leute an den Segen antiautoritärer Erziehungsmethoden. Einige der Nachbarn kamen nur nach Hause, wenn sie gerade Hafturlaub hatten, und die Nasen vieler Männer aus diesem Viertel waren so eigentümlich flach und geknickt, dass es aussah, als wären sie irgendwie alle miteinander verwandt. Es war keine gute Gegend für Lausejungen, die die Nachbarn belästigen wollten. Besser, sie spezialisierten sich auf die nervenschwache, hilflose Mutter.
    Die Wahlplakate allerdings waren zu viel für sie gewesen. Sie hatten der Versuchung einfach nicht widerstehen können. Eine Brille und ein paar Bartstoppeln. Eine harmlose Maskierung, die geradezu nach Tommis reiferer Kunst roch. Die Frage war allerdings, ob sich die Nachbarn davon belästigt fühlen würden. Die Männer, die abends von ihren stupiden Arbeiten zurückkehrten, kümmerte es gewiss nicht, ob Walter Gerstschneider plötzlich kurzsichtig und unrasiert war. Sie würden grummelnd an ihm vorübergehen, während sich ihre kurzatmigen, abgehackten Gedanken darauf einpendelten, wie sie ihren Frust an ihrer Frau, statt an ihrem Chef auslassen konnten.
    Bei den Frauen allerdings lag die Sache anders. Sie mochten Gerstschneider. Er war ihr persönlicher Kandidat geworden, der einzige, der sich um sie kümmerte und sich in diese unschöne Gegend vorwagte. Der sogar nachts dort auf der Straße stand, wenn sich nicht einmal Frau Salenskys Sohn mehr hinauswagte, der immerhin eins fünfundneunzig groß war und einen Totenkopfsticker auf der Lederjacke hatte. Sie würden nicht glücklich über Gerstschneiders Brille und Bart sein. Die Brille machte ihn verletzlich, die Bartstoppeln ließen ihn aussehen, als habe er sich diesem Milieu angepasst. Beides nahm ihm das Image eines gediegenen Beschützers, das ihn so attraktiv für diese Straße machte.
    Frau Kapf kletterte die schmutzige Treppe hinauf, in der es nach kaltem Zigarettenrauch, Knoblauch, kaltem Zigarettenrauch, angebranntem Fett und kaltem Zigarettenrauch roch. Sie kämpfte mit dem Schloss ihrer Tür, das bereits seit drei Jahren klemmte – gut, denn da hatte ihr Mann noch gelebt, also konnte sie ihm die Schuld dafür zuschieben.
    „Tommi!“, rief sie. „Rudi, Harri!“
    Ihre drei kleinen Ungeheuer schienen nicht zu Hause zu sein. Dafür war aber ihre ungewaschene Wäsche zu Hause, das ungespülte Geschirr, der ungesaugte Fußboden, die ungeputzten Fenster und der unreparierte Wasserhahn. Die Un’s waren immer da, wenn sie heimkam. Sie schmarotzten und lebten bei ihnen, ohne einen Pfennig Miete zu bezahlen.
    „Unglaublich“, murmelte sie, und in der Wohnung schien etwas leise „hier“ zu rufen.
    Ja, auch das Un-glaublich war stets hier, in ihrer Wohnung, mitten in ihrem Leben.
    Sie stellte die Taschen ab. Das Gewicht schien sie auch dann noch nach unten zu ziehen, als es längst nicht mehr an ihren Armen zerren konnte. Sie betrachtete die vielen unerledigten Dinge, doch bevor sie einen Handgriff tun konnte, sank sie auf den bunt bemalten Sessel, schloss die Augen und schlief ein.

6
    Melanie hatte das Filmteam gesehen. Junge Leute, langhaarig, blass und verfremdet in dem seltsam elektrisch wirkenden Spiel von Farben und Konturen. Sie hätte nicht sagen können, ob es vier oder fünf gewesen waren, ob eine Frau oder zwei. Es war sehr schnell gegangen, die Welt war nicht die ihre gewesen, hatte geflimmert, gezischt und geknistert, und es hatte so vieles zu sehen und zu verarbeiten gegeben.
    „Sie waren

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