Skalpell Nr. 5
Obduktionstischen.«
Er trat an den Tisch und zog den Reißverschluss des Leichensacks auf. Manny machte einen Schritt zurück. Die Leiche trug einen Schlafanzug mit Blümchenmuster. Behutsam entfernte Jake die Kleidung, ohne sie zu beschädigen. Manny bekam Gänsehaut auf den Armen. Jetzt war Theresa Alessis völlig nackt. Ihr Mund stand offen, ihre Haut wirkte schon wie ausgetrocknet. Das war kein hübsch geschminkter Leichnam, der in einem Bestattungsunternehmen aufgebahrt lag, als würde er schlafen.
Manny überkam eine Welle von Traurigkeit. Mrs. Alessis sah so jämmerlich aus, ein Berg welker Haut. Wohl niemand, der noch alle seine Sinne beisammenhatte, würde sich wünschen, jemals so reduziert, so entblößt zu werden.
Hoffentlich sterbe ich im Schlaf, dachte sie. Bitte, bitte keine Obduktion. Sie nahm sich fest vor, wieder ins Fitnessstudio zu gehen. »Mein Gott«, sagte sie. »Dieser Geruch!«
»Der stört nur am Anfang«, sagte Jake. »Gleich geht’s Ihnen besser.«
»Wie faule Eier, nur schlimmer.«
»Zersetzung; der menschliche Körper zerfällt. Leichname sondern Darmgase ab, zum Beispiel Schwefelwasserstoff. Das ist ein natürlicher Vorgang – Asche zu Asche. Das göttliche Recyclingverfahren.«
»Sehr tröstlich. Ich bin Prozessanwältin, Dr. Rosen. Ich sollte Prozesse vorbereiten. Ich gehöre nicht in diese Leichenhalle. Ich will nach Hause!«
Er lächelte. Amüsier dich nur. Gönn dir deinen Spaß. Quäl die kleine Manny. Sehr lustig. Sie erwartete eine Standpauke, dass sie die Chirurgenmontur hätte anziehen sollen, aber er sagte nur überaus höflich: »Wenn Sie möchten, tupf ich ein bisschen Wick Vaporub in Ihre Maske. Das überdeckt den Geruch. Seit Das Schweigen der Lämmer, wo Jodie Foster das gemacht hat, schmieren sich die Hälfte aller Cops und Anwälte das Zeug bei Obduktionen unter die Nase. Ich glaube, die Wirkung ist eher psychologisch als physisch.«
»Nein. Danke. Wenn Sie nichts dagegen haben, setze ich mich nur kurz mal hin.«
»Klar.« Er zeigte auf einen Stuhl. Unterdessen zog er einen Metallhocker an den Obduktionstisch und stieg darauf, um sich dann rittlings über die Leiche zu stellen. Dann nahm er eine Kamera und begann, Fotos zu machen. »Bei meiner ersten Obduktion hatte der Gerichtsmediziner eine Tasse Kaffee in der einen Hand und stocherte mit der anderen in den Organen des Verstorbenen herum. Widerlich! Ich fand’s unbegreiflich, wie jemand so abgestumpft und unsensibel sein konnte. Ungefähr sechs Obduktionen später hab ich’s genauso gemacht.«
»Eine reizende Geschichte«, sagte sie. »Danke, dass Sie sie mir erzählt haben.«
»Ich wollte Sie nur ein wenig aufmuntern.« Er stieg herunter, drehte die Leiche, kletterte wieder auf den Tisch und schoss eine weitere Serie von Fotos. »Jetzt brauche ich Ihre Hilfe.«
Sie stand unsicher auf. »Stehe zu Diensten.« Du Ungeheuer.
Er holte ein langes Holzlineal aus einer Ecke des Raumes und gab es ihr. »Richten Sie das Ende an den Füßen aus und messen Sie die Körperlänge oben am Kopf.« Er nahm sich Notizblock und Stift. »Also, wie groß?«
Sie hielt das Lineal in der Hand und versuchte, die Leiche nicht anzusehen. »Äh … ein Meter zweiundsechzig.«
»Gewicht?«
»Weiß der Himmel. Soll ich etwa raten?«
»Genauso wird’s gemacht. Wenn keine Körperwaage vorhanden ist, schätzen wir.«
»Das ist doch verrückt. Na schön … ich würde sagen, hundertfünfzigeinhalb Pfund.«
»Sehr gut. Genau das hätte ich auch geschätzt, obwohl das mit dem halben Pfund ein bisschen schwierig ist. Vielleicht die Donuts, die sie zum Frühstück gegessen hat. Wenn wir den Magen öffnen –«
»Bitte!« Sadist. »Verschätzen Sie sich oft mit dem Gewicht?«
»Das kommt vor, aus vielerlei Gründen. Aber am strittigsten ist die Größe. Angehörige lesen einen Obduktionsbericht und schwören Stein und Bein, dass der Tote nicht ihr Verwandter sein kann. Wissen Sie, warum?«
»Weil manche Leute ihre Größe absichtlich falsch angeben?«
»Genau. Man hat Ausweispapiere untersucht und festgestellt, dass viele Menschen – vor allem kleine – gern ein paar Zentimeter dazumogeln.« Er reichte ihr Block und Stift. »So, jetzt brauchen wir eine Probe von der Glaskörperflüssigkeit des Auges.« Er griff nach einer Spritze.
»Warten Sie!«, kreischte Manny. »Sie wollen ihr das Ding da ins Auge stechen?«
»Allerdings. Die Flüssigkeit im Weiß des Auges kann uns Aufschluss über den Zeitpunkt des Todes und
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